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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 1. Krisenzeit: 1929-1932

[1.8. Die Aktionen des Joint gegen die jüdische Armut in Osteuropa]

[Späte 1920er Jahre: Osteuropa: Aktionen des JDC gegen die jüdische Armut]

Die Aktivitäten des JDC in Osteuropa wurden vom Wunsch motiviert, Hilfsarbeit möglichst zu vermeiden; die relativ kleinen Summen konnten in keinster Weise das massenhafte Leid lindern. Deshalb wurde die Arbeit auf den Aufbau konzentriert. Diese Arbeit fand ihren Ausdruck (S.33)

in vier Aspekten von JDC-Aktivitäten: Medizinische Arbeit, Erziehung, Kinderhilfe, und die Erteilung von günstigen Krediten. (Es war das Prinzip von Dr. Kahn, sich bei der letzteren Aktivität nicht direkt zu engagieren, sondern jene Organisationen zu unterstützen, die am effektivsten in diesem Bereich arbeiteten).

[1921: Polen: Gründung der medizinischen Organisation TOZ - die Tätigkeit des TOZ]

Was das Gesundheitsprogramm anging, so hatte das Verteilungskomitee JDC im Jahre 1921 in Polen die TOZ gegründet. Diese Gruppe von Medizinern und Verwaltern betrieben ihre Gesellschaft auf der Basis der bezahlten Pflichtmitgliedschaft, die die Organisation kontrollierten, und sie verlangten für einen kleinen Teil ihrer Leistungen einen kleinen Minimalbetrag. Die anderen Dienste waren gratis. Sammlungen, Regierungsbeiträge und Beiträge des JDC trugen zum Rest ihres Budgets bei.

Bis zum Jahre 1929 hatte die TOZ in Polen 63 Ableger mit 14.854 Mitgliedern. Es sorgte für Gesundheitserziehung in Form von Vorlesungen, Filmen und Publikationen. Es betrieb Sommerlager ("Kolonien"), Anti-TB-Kliniken, Zahnkliniken, und Milchstationen für Kinder, und verschiedene Schulprogramme. (S.34)

(Endnote 10: Das medizinische Personal der TOZ umfasste im Jahre 1929 297 Personen. Die TOZ betrieb im Jahr 1929 31 Spitäler, 21 Anti-TB-Kliniken und 26 Zahnkliniken. Der Beitrag des JDC zum Budget von 2 Mio. Zloty betrug 337.000 Zloty. Die Sommerlager wurden im Jahre 1927 von 7820 Kindern, im Jahre 1928 von 7633 Kindern, und im Jahre 1929 von 6427 Kindern besucht. (S.308)

In anderen Gebieten Osteuropas unterstützte das JDC das Wiederaufleben der russisch-jüdischen Gesundheitsorganisation, die unter dem Namen OSE bekannt wurde.

[1912: Russland: Gründung der medizinischen Organisation OSE / OZE]

(Fussnote: OSE (OZE) - Obshchestvo Zdravookhraneniya Yevreyev (Gesellschaft für Jüdischen Gesundheitsschutz, engl.: Society for the Protection of the Health of the Jews), gegründet 1912)

[Ab 1919: OSE / OZE: Einrichtung eines Systems von Hilfezentren in der Ukraine, Baltenstaaten, Danzig, Bessarabien und Österreich]

Trotz der Tatsache, dass diese alten und gut eingelebten Gruppen nun von ihren einstigen Operationsbasen in Russland abgeschnitten waren, so machte es doch nach dem Krieg weiter mit Aktivitäten in der Ukraine, in den Baltenstaaten, in Danzig, in Bessarabien und in Österreich. In jenen Ländern wurde ein System von Hilfezentren eingerichtet.

Aber die OSE war in diesen Regionen lange nicht so wichtig wie in die TOZ in Polen, und Kahn bemängelte eifrig immer wieder, was er deren Konservatismus nannte. Nichtsdestotrotz machte die OSE in ihren eigenen Gebieten eine sehr sinnvolle Arbeit.

[1923: Polen: Das JDC gründet den Kinderhilfsverband CENTOS]
Für die Kinderhilfe setzte das JDC im Jahre 1923 einen eigenen polnischen Kinderhilfsverband ein (child care federation of Poland), der unter der Bezeichnung CENTOS bekannt wurde. CENTOS engagierte sich bei der Sozialarbeit mit Waisenkindern und armen Kindern, und kooperierte mit der TOZ in Sommerlagerprogrammen und ähnlichen Aktivitäten.

[1923: Warschau: Das JDC gründet Krankenschwesternschulen unter Amelia Grunwald - besser wirtschaftliche Position der Krankenschwester in ganz Polen]

Eine der direkten Errungenschaften der JDC-Arbeit in Polen war im Jahre 1923 die Einrichtung einer modernen Krankenschwesternschule in Warschau durch Amelia Grunwald. Frau Grunwald war eine sachkundige Krankenschwestern und eine effiziente Verwalterin, die ihren Posten in den USA aufgab, um dieses (S.34)

Unternehmen zu übernehmen. Das JDC gab bis 1929 für diese Schule ungefähr 95.000 $ aus, und als Resultat daraus beteiligten sich die Regierung und die Gemeinde Warschau in einem immer stärkeren Masse am Budget der Institution. Die Schule, die einem Gemeindespital angeschlossen war, das hauptsächlich jüdische Patienten betreute, hatte einen bedeutenden Wandel des Krankenschwesternberufs in Polen ausgelöst. Die Krankenschwester war als ein spezialisiertes Dienstmädchen des Arztes angesehen worden. Aber die Schule, die zusammen mit einer weiteren Institution von der Rockefeller-Stiftung eingerichtet wurde, bewirkte, dass Krankenschwestern ein respektiertes Mitglied der medizinischen Berufe wurden. Die Krankenschwestern wurden nicht nur besser bezahlt, sondern die Krankenschwestern konnten nun auch auf ein besseres soziales Ansehen hoffen. Diese Errungenschaft war für weitere Projekte des JDC in anderen Tätigkeitsbereichen beispielgebend.

[Polen?: JDC-Unterstützung für jüdische Schulen]

Das Schulsystem war ein weiteres Gebiet, wo das JDC in seinen Aufbauaktivitäten versuchte, gewisse Institutionen zu unterhalten, um eine junge Generation Juden auszubilden, die für die Welt der damaligen Zeit gewappnet sein sollten, ohne aber auf die Art und Weise einer jüdischen Erziehung verzichten zu müssen, die die Älteren für die Jungen anstrebten. Gelder flossen normalerweise über die drei ursprünglich gegründeten Organisationen des JDC: über das Orthodoxe Zentralkomitee für kriegsversehrte Juden (Orthodox Central Committee for the Relief of Jews Suffering through the War), über die sozialistische Volkshilfe (People's Relief), und über das JDC selbst, das jeweils als AJRC [American Joint Relief Committee] auftrat. Das Kulturkomitee des JDC war aus Vertretern dieser Organisationen zusammengesetzt, und die verschickten Gelder sollten gemäss einem "Schlüssel" aufgeteilt verteilt werden

-- 55 % an die Orthodoxen
-- 17,5 % an Arbeiter (eigentlich Jiddische Kultur) und
-- 27,5 % an alle restlichen (Hebräische Tarbuth-Schulen, assimilatorische Schulen, und einige religiöse Schulen, die durch das Zentralkomitee nicht unterstützt wurden).

Dieses eher einseitige Arrangement, das bis in die frühen 1930er Jahre dominierte, war eher ein Spiegel der europäischen Mentalität als der amerikanischen, und ersetzte das Arrangement von 1920, wobei jede der drei Gruppen - mehr oder weniger unabhängig voneinander - ihre eigenen Einrichtungen unterstützte. Die staatliche Erziehung war für Juden entweder nicht zugänglich oder antijüdisch, oder sogar beides; demzufolge gingen ungefähr die Hälfte der jüdischen Schüler in jüdische Schulen.

(Endnote 11:
Es gab 540 orthodoxe Schulen für Buben und 148 (Beth Yaacov)-Schulen für Mädchen, mit über 81.000 Schülern (die Mädchen erhielten nur 10 Stunden Schule pro Woche); die orthodoxe yeshivoth hatte 18.298 Schüler, und weitere 6700 Schüler waren in Abendschulen in der Ausbildung - total waren das über 106.000 Schüler. Die 471 hebräisch-orientierten Tarbuth-Schulen umfassten 44.370 Schüler, und die 210 jiddischistischen Schulen umfassten 19.500 Schüler; alles zusammen waren dies 170.000 Schüler in jüdischen Schulen (siehe: Executive Committee, 12/4/30 [4. Dezember 1930]).

[Ab 1924: Polen: Das JDC gründet die Amerikanisch-Jüdische Aufbaustiftung (American Jewish Reconstruction Foundation) - die Kreditkassen]

Dennoch war die Hauptarbeit von Dr. Kahn auf den (S.35)

wirtschaftlichen Wiederaufbau gerichtet. Für dieses Ziel hatte das Aufbaukomitee des JDC die Kräfte im Jahr 1924 in der ICA [Jüdische Kolonialgesellschaft] konzentriert, um die Amerikanisch-Jüdische Aufbaustiftung zu gründen, die von den beiden Organisationen getragen wurde, von Kahn (als Vertreter des JDC) und von Dr. Louis Oungre (als Vertreter der ICA) als Geschäftsführer. Der regierende Apparat der Stiftung wurde von sechs Mitgliedern der beiden Gründerorganisationen bestellt, und acht Mitglieder sollten die jüdischen Führer sein, die die Juden in Polen, Litauen und Bessarabien vertreten sollten. Die Liste umfasste einige Arbeitervertreter, einige Vertreter der Handelskreise, einen orthodoxen Juden, und einen Palästina-Zionisten. Aber beide orthodoxen Mitglieder (Jacob Trockenheim) und der Zionist (Berl Locker) sind bei den Gründungsversammlungen nicht aufgetaucht.

Als Hauptaufgabe der Stiftung war vorgesehen, dass sie kooperative Kreditinstitutionen einrichten sollte, die als "Kreditkassen" bekannt waren. Diese Kassen würden das Grundkapital einfordern, Sicherheiten und Einlagen (bis zu einem gewissen Grad) akzeptieren, und Geld zu einem vernünftigen, tiefen Zinssatz ausleihen, hauptsächlich an jüdische Händler und Handwerker. Die Idee hinter dieser Bewegung war, dass die Händler - eigentlich Kleingewerbler - und Handwerker, die die überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Polen und in den osteuropäischen Ländern ausmachten, darunter litten, dass es für sie keine günstigen Kredite gab. Wenn man ihnen bei der Finanzierung in stabiler und geschäftlicher Weise entgegenkam, so würden sie nicht nur fähig sein, mit den Nichtjuden in Konkurrenz zu treten, sondern sie würden auch ihre Selbstachtung als sinnvolle Mitglieder ihrer Gemeinde wiederfinden. Mit Hilfe der politischen Körperschaften, miteingeschlossen der Zionisten und Bundisten, (S.36)

Tabelle 1: Kassen der Aufbaustiftung (Reconstruction Foundation)
Jahr
Anzahl Kassen
Anzahl Mitglieder
Investitionsgelder der neuen Stiftung (net)
1929
747
310.000
$ 246.000
1930
768
321.000
$ 865.000

[Gründung des Verbands zur Kontrolle der einzelnen Kassen]

wurde ein Zentralverband eingerichtet, bekannt als der Verband, um die Kontrolle der einzelnen Kassen zu übernehmen. Ausserdem wurde ein Bank eingerichtet, die als finanzielles Instrument dienen sollte. Diese wirtschaftliche Bewegung war unzweifelhaft sehr beliebt.

[1924-1926: Polen: Die Auswirkung der Kassen: Hilfe nur für kreditwürdige Juden]

Gut über ein Drittel der jüdischen Bevölkerung in Polen wurde durch die Kassen erreicht. Die Kredite waren klein, im Durchschnitt 50 $, und sie wurden normalerweise rechtzeitig zurückbezahlt; Fälle mit säumigen Schuldnern waren relativ wenige. Nichtsdestotrotz erreichten diese Kassen nur jenen Teil der jüdischen Bevölkerung, der noch in einem gewissen Mass mit einer Limite bewertet kreditwürdig war; es war ganz klar, dass die ärmeren Gruppen in dieses Unternehmen nicht miteinbezogen werden konnten. Auch die ICA [Jüdische Kolonisationsgesellschaft] sah keinen klaren Weg, den ärmeren Blutsverwandten zu helfen.

[1926: Polen: Kahn richtet Kassen mit Barmherzigkeit und zinsfreien Krediten ein: Freie Kreditkassen - Beliebtheit des Joint]

Kahn, der Vertreter des JDC, suchte eine Art Lösung, und im Jahre 1926 richtete er in Polen eine Serie von Institutionen mit dem traditionellen Namen Freier Kredit ein, oder Gemiluth Chessed, Kassen Gemiluth chessed (Gabe aus Barmherzigkeit) war der traditionelle Terminus für das Almosengeben. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war die  Bedeutung des Begriffs auf die zinsfreien Kreditkassen ausgedehnt worden. Kahn weitete die Bedeutung nun weiter aus und richtete Kreditgesellschaften ein, die in grosser Zahl sehr kleine Kredite ausgeben würden, zu einem nominal Zinssatz, oder ohne jeglichen Zinssatz. Hier wurde erneut Grundkapital gebraucht, aber die niedrigverzinsten JDC-Kredite deckten nun einen viel grösseren Teil der Bedürfnisse dieser Kassen ab als jene der Kreditkassen.

Die Freien Kreditkassen erfüllten offensichtlich ein dringendes Bedürfnis. Bis 1930 wurden in Polen 545 eingerichtet, mit 100.000 Mitgliedern. Die totalen Gelder kamen auf 1,1 Mio. $, von denen 665.000 $ durch das JDC investiert worden waren. Ein traditionelles Konzept war erfolgreich an die moderne Situation angepasst worden, und folglich stieg die Beliebtheit des Joint unter den polnischen Juden beträchtlich an.

[Ab 1926: Kahn vom JDC sucht eine definitive Lösung - Plan einer Industrialisierung des polnischen Judentums]

Alle diese Unternehmungen milderten das jüdische Leid in einem beträchtlichen Mass, und waren im Leben der Millionen Juden in Polen sehr wichtig. Nichtsdestotrotz war Kahn zu sehr ein Realist uns sah natürlich, dass er den Kern des jüdischen Wirtschaftsproblems damit nicht wirklich getroffen hatte. Die Kassen waren wirklich nicht mehr als ein Instrument, den wirtschaftlichen Schlag abzudämpfen, unter dem die Juden litten, (S.37)

und dies zu einem viel schlimmeren Grad. Es war ganz offensichtlich, dass die Ärmsten der Armen - ein Drittel des polnischen Judentums - nicht einmal von den Freien Kreditkassen profitieren konnte. Die wertvollen Dollars für Soforthilfe auszugeben wäre nicht nur herabsetzend, sondern auch sinnlos. Konnte irgendwas getan werden, um die Lage zu verändern und den Juden in Polen eine reale Gelegenheit zu geben, ihr wirtschaftliches Leben wieder aufzubauen?

Kahn dachte sehr klar, dass das polnische Judentum mittels der zielbewussten Aktionen von Seiten des amerikanischen Judentums so verändert werden könne, dass es sich an die neu heranwachsende polnische Gesellschaft anpassen würde. Im Sommer 1929 erschien er vor der Führung des JDC in Zürich anlässlich der dortigen Diskussionen der Jewish Agency, und er schlug einen Plan für die Industrialisierung des polnischen Judentums vor.

[1929: Kahns Plan zur Industrialisierung des polnischen Judentums]

Zu Kahns Plan gab es mehrere Aspekte. Her dachte, dass Polen industrialisiert werden würde, und dass der Antisemitismus nicht stark genug sein würde, um die polnischen Staatsmänner gegenüber der Unabhängigkeit des polnischen Judentums und gegenüber der polnischen Wirtschaft blind zu machen. Deshalb sollte es möglich sein, die Regierung für ein Schema zu gewinnen, das die Juden in die Wirtschaft integrieren würde. Er nahm an, dass es einen stetigen Strom von amerikanischem Geld von ungefähr 1,1 Mio. $ pro Jahr fünf Jahre lang geben würde; wenn dies sauber umgesetzt würde, so könnte diese nicht sehr grosse Summe Wunder wirken.

Auch Kahn betrachtete die Auswanderung als keine Lösung, und er meinte, dass die Probleme des polnischen Judentums in Polen selbst gelöst werden sollten.

Eine andere Voraussetzung war, dass das Programm durch amerikanische Juden aufgelegt und durch das JDC umgesetzt werden würde - in Tat und Wahrheit, durch Kahn. Er scheint nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben, polnische Juden selbst an seinen Planungen oder an der Ausführung zu beteiligen. Er bestand auch mit absoluter Klarheit und Überzeugung darauf, dass man nur auf einer minimalen Fünf-Jahres-Basis planen könne, mit Geldern, die dieses erste Stadium abdecken würden. Dies war das, was in Russland getan wurde, und Kahn bezog sich offensichtlich auf die dortige Erfahrung, um es auch beim polnischen Judentum zu versuchen.

Nachdem diese Voraussetzungen skizziert worden waren, fuhr Kahn fort, seinen Plan zu entwickeln.

Wir müssen versuchen, in den jüdischen Massen eine gesündere, wirtschaftliche Struktur zu entwickeln, und der jetzige Wettbewerb unter (S.38)

den verschiedenen jüdischen Klassen sollte aufhören. Man sollte die wirtschaftliche Situation derart umgestalten, dass sich die verschiedenen Gruppen aufeinander verlassen können: Die Arbeiter sollten sich auf die Handwerker verlassen können, die Händler sollten sich auf den Industriellen verlassen können etc., und so würden die einzelnen Teile sich einander wirtschaftlich ergänzen.

Aber solch ein radikaler Wandel der wirtschaftlichen Strukturen ist nicht möglich. Die Hauptbeschäftigung der Juden wird noch für viele Jahre lang dieselbe sein. Industrie, Geschäft, Handel, Handwerk, Fachberufe, in denen 70-80 % der Juden beschäftigt sind, werden weiterhin die Basis ihrer Einkommen bilden.

Diese Berufsfelder müssen reguliert werden, der Wettbewerb in den kleinen Industrien muss reduziert werden, und die Produktion muss angepasst werden. Der Handel ist nicht systematisch, es gibt keinen Befehl oder keine Rechnung im Geschäft, die Handwerke sind einseitig, einige Ableger sind überbesetzt, es gibt zu wenig Variationen und nicht genug Spezialisierung, und als letztes haben die Handwerker nicht genug Übung und wenden veraltete Methoden an.

Wenn wir über die "Umschichtung der Massen" reden, so müssen wir nicht nur versuchen, neue Berufe zu erfinden, in denen eine grosse Anzahl Juden beschäftigt werden können, sondern alle Berufe neu zu organisieren. Eine grosse Anzahl wird von der Industriebranche und vom Handel ausgeschlossen sein, auch wenn wir alles Mögliche unternehmen, die jüdische, wirtschaftliche Position im Handel und in der Industrie zu halten. Jene, die nun ausgeschlossen sind, können Stellen als Angestellte finden.

Eine Wiederbelebung des jüdischen Handels und der Industrie wird für Angestellte wieder normale Bedingungen bringen. Überall übernehmen nun Angestellte die Plätze der unabhängigen Kleinhändler und Kleinindustriellen. Die Anzahl der Angestellten steigt schnell, viel schneller im Verhältnis zur Anzahl Arbeiter. ...

Ein weiteres Mittel, die grösseren jüdischen Massen an die neue Wirtschaftsordnung anzupassen, war die Industrialisierung. Bislang waren es vergleichsweise wenige jüdische Fabrikarbeiter und Industriearbeiter gewesen, die zu Hause für Fabriken und Werkstätten bzw. in kleinen Werkstätten arbeiteten. Mechaniker sind sie nicht. Der Fortschritt in der Maschinenentwicklung hat diese Leute zu Arbeitslosen gemacht und hält mehr jüdische Arbeiter vor einer Beschäftigung ab. Auch Handwerker müssen in Häusern Arbeit finden, wo Maschinen gebraucht werden, wenn sie sicher sein wollen, eine Anstellung zu finden.

Es ist wohlbekannt, dass die jüdischen Arbeiter, speziell die jüdischen Industriearbeiter und die Fabrikarbeiter, arbeitslos sind. es ist weiter bekannt, dass die Massen der jüdischen Arbeiter keine Mechaniker, und dass es beim "Schichtwechsel der Massen" es absolut notwendig ist, über grössere Gruppen jüdischer Arbeiter in der Industrie und in den Fabriken verfügen zu können.

Mit unseren kleinen Mitteln haben wir in Lodz einen Start gemacht. Hier haben wir - zusammen mit jüdischen Produzenten, in die Prozesse einer kleinen  (S.39)

Textilfabrik eingegriffen, wo Arbeiter angestellt sind, und wo jüdische Weber an Maschinen arbeiten, die nach einer kurzen Ausbildungszeit, in jüdischen Fabriken arbeiten können, so dass nun eine dauernde Weiterbildung von jüdischen Arbeitern im Gange ist. ...

Wenn wir fähig sind, diese Arbeit weiter zu organisieren, so glaube ich, dass nach ein paar Jahren wir die Position der Juden gestärkt haben werden, bis zu einem Grad, dass für sie eine andauernde erfolgreiche Entwicklung einsetzen wird.

(Endnote 12: Ordner 42, 7/10/29 [10. Juli 1929])


Die finanziellen Erfordernisse waren sehr bescheiden; neben dem normalen Kahn-Budget, das in vielen Teilen dieselbe Art Arbeit beinhaltete wie zuvor, würde er 625.000 $ pro Jahr mehr verlangen, um mit einem Minimalprogramm seine Vorschläge in die Tat umzusetzen: vor allem sollten Organisationen von Fabriken unterstützt werden, wo Juden angestellt waren, um jüdische, junge Leute zu Fabrikarbeitern auszubilden.

Kahns Industrialisierungsplan war ein erfinderischer Versuch, das wirtschaftliche Problem der jüdischen Massen durch moderne Mittel anzugehen. Der Plan stand auch im Einklang mit einer wirtschaftlichen Entwicklung in Osteuropa. Er war verwegen, und er basierte auf einer Anzahl harter Fakten, und der Plan wäre in der Hand eines erstklassigen Verwalters und ökonomischen Experten.

[November 1929: Der Börsencrash in New York zerstört alle Pläne - polnischer Antisemitismus hätte den Plan blockiert - die Frage nach einem Markt für jüdische Produkte]

Aber der Plan wurde nie umgesetzt, weil Ende 1929 die grosse Depression einsetzte. Nichtsdestotrotz ist es zweifelhaft, ob der Plan je eine reelle Chance auf eine erfolgreiche Umsetzung gehabt hätte. Der Plan nahm freundlicherweise an, dass Antisemitismus ein wirtschaftliches Phänomen sei, dass dem polnischen Judentum geholfen werden musste, und dass dann die anlaufenden Gelder für die polnische Gesellschaft die antijüdischen Gefühle in der Bevölkerung neutralisieren würden, ebenso in der Regierung. Ohne die Hilfe - oder zumindest eine wohlwollende Neutralität - der polnischen Regierung war es undenkbar, dass das Projekt Erfolg haben könnte.

Noch wichtiger war, dass das Projekt annahm, dass man die jüdische Wirtschaft in Polen umgestalten könne, ohne gleichzeitig die polnische Wirtschaft selbst umzugestalten. Das scheint ein Trugschluss gewesen zu sein - und das Verteilungskomitee JDC war nicht wirklich stark genug, auch nicht zur Zeit des Wachstums, um in ganz Polen die Probleme zu lösen. Kahn dachte auch, dass durch reine Exportverträge jüdische Produkte einen Markt finden würden. Dies war eine Annahme, die auf der Existenz wachsender Bedingungen in den USA und anderswo beruhte. Aber für Europa war das Jahr 1929 kein sehr gutes (S.40)

Jahr, und wir erwähnten schon die Missernten im Osten, die die Kaufkraft der Bauern geschmälert hatten. Wenn die Position der Bauern sich nicht verbesserte, wer würde dann die jüdischen Produkte kaufen - oder jedwelche andere Produkte in diesem Zusammenhang?

[Russland: Die Integration des sowjetischen Judentums - Kahns Plan für Juden in Polen hätte nur mit einer wachsenden Wirtschaft funktioniert]

Der Erfolg der wirtschaftlichen Integration des sowjetischen Judentums einige Jahre später war ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten in anderen Ländern. Im sowjetischen Russland kam die Lösung des Wirtschaftsproblems, als die Juden als Arbeiter in der schnell wachsenden Wirtschaft akzeptiert wurden, wo Arbeitermangel herrschte. Ohne eine wachsende Wirtschaft ist es somit schwierig, wie Kahns Industrialisierungplan in Polen hätte funktionieren sollen. Also muss man sich in Erinnerung rufen: Von all jenen, die versuchten, für das polnisch-jüdische Problem eine Lösung zu finden, kam Kahn am ehesten an eine positive und praktikable Lösung. Es war nicht sein Fehler, dass sein Programm nie umgesetzt wurde.


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