[1.8. Die
Aktionen des Joint gegen die jüdische Armut in
Osteuropa]
[Späte 1920er Jahre:
Osteuropa: Aktionen des JDC gegen die jüdische Armut]
Die Aktivitäten des JDC in Osteuropa wurden vom Wunsch
motiviert, Hilfsarbeit möglichst zu vermeiden; die relativ
kleinen Summen konnten in keinster Weise das massenhafte
Leid lindern. Deshalb wurde die Arbeit auf den Aufbau
konzentriert. Diese Arbeit fand ihren Ausdruck (S.33)
in vier Aspekten von JDC-Aktivitäten: Medizinische Arbeit,
Erziehung, Kinderhilfe, und die Erteilung von günstigen
Krediten. (Es war das Prinzip von Dr. Kahn, sich bei der
letzteren Aktivität nicht direkt zu engagieren, sondern
jene Organisationen zu unterstützen, die am effektivsten
in diesem Bereich arbeiteten).
[1921: Polen: Gründung
der medizinischen Organisation TOZ - die Tätigkeit des
TOZ]
Was das Gesundheitsprogramm anging, so hatte das
Verteilungskomitee JDC im Jahre 1921 in Polen die TOZ
gegründet. Diese Gruppe von Medizinern und Verwaltern
betrieben ihre Gesellschaft auf der Basis der bezahlten
Pflichtmitgliedschaft, die die Organisation
kontrollierten, und sie verlangten für einen kleinen Teil
ihrer Leistungen einen kleinen Minimalbetrag. Die anderen
Dienste waren gratis. Sammlungen, Regierungsbeiträge und
Beiträge des JDC trugen zum Rest ihres Budgets bei.
Bis zum Jahre 1929 hatte die TOZ in Polen 63 Ableger mit
14.854 Mitgliedern. Es sorgte für Gesundheitserziehung in
Form von Vorlesungen, Filmen und Publikationen. Es betrieb
Sommerlager ("Kolonien"), Anti-TB-Kliniken, Zahnkliniken,
und Milchstationen für Kinder, und verschiedene
Schulprogramme. (S.34)
(Endnote 10: Das medizinische Personal der TOZ umfasste im
Jahre 1929 297 Personen. Die TOZ betrieb im Jahr 1929 31
Spitäler, 21 Anti-TB-Kliniken und 26 Zahnkliniken. Der
Beitrag des JDC zum Budget von 2 Mio. Zloty betrug 337.000
Zloty. Die Sommerlager wurden im Jahre 1927 von 7820
Kindern, im Jahre 1928 von 7633 Kindern, und im Jahre 1929
von 6427 Kindern besucht. (S.308)
In anderen Gebieten Osteuropas unterstützte das JDC das
Wiederaufleben der russisch-jüdischen
Gesundheitsorganisation, die unter dem Namen OSE bekannt
wurde.
[1912: Russland: Gründung
der medizinischen Organisation OSE / OZE]
(Fussnote: OSE (OZE) - Obshchestvo Zdravookhraneniya
Yevreyev (Gesellschaft für Jüdischen Gesundheitsschutz,
engl.: Society for the Protection of the Health of the
Jews), gegründet 1912)
[Ab 1919: OSE / OZE:
Einrichtung eines Systems von Hilfezentren in der
Ukraine, Baltenstaaten, Danzig, Bessarabien und
Österreich]
Trotz der Tatsache, dass diese alten und gut eingelebten
Gruppen nun von ihren einstigen Operationsbasen in
Russland abgeschnitten waren, so machte es doch nach dem
Krieg weiter mit Aktivitäten in der Ukraine, in den
Baltenstaaten, in Danzig, in Bessarabien und in
Österreich. In jenen Ländern wurde ein System von
Hilfezentren eingerichtet.
Aber die OSE war in diesen Regionen lange nicht so wichtig
wie in die TOZ in Polen, und Kahn bemängelte eifrig immer
wieder, was er deren Konservatismus nannte.
Nichtsdestotrotz machte die OSE in ihren eigenen Gebieten
eine sehr sinnvolle Arbeit.
[1923: Polen: Das JDC
gründet den Kinderhilfsverband CENTOS]
Für die Kinderhilfe setzte das JDC im Jahre 1923 einen
eigenen polnischen Kinderhilfsverband ein (child care
federation of Poland), der unter der Bezeichnung CENTOS
bekannt wurde. CENTOS engagierte sich bei der Sozialarbeit
mit Waisenkindern und armen Kindern, und kooperierte mit
der TOZ in Sommerlagerprogrammen und ähnlichen
Aktivitäten.
[1923: Warschau: Das JDC
gründet Krankenschwesternschulen unter Amelia Grunwald -
besser wirtschaftliche Position der Krankenschwester in
ganz Polen]
Eine der direkten Errungenschaften der JDC-Arbeit in Polen
war im Jahre 1923 die Einrichtung einer modernen
Krankenschwesternschule in Warschau durch Amelia Grunwald.
Frau Grunwald war eine sachkundige Krankenschwestern und
eine effiziente Verwalterin, die ihren Posten in den USA
aufgab, um dieses (S.34)
Unternehmen zu übernehmen. Das JDC gab bis 1929 für diese
Schule ungefähr 95.000 $ aus, und als Resultat daraus
beteiligten sich die Regierung und die Gemeinde Warschau
in einem immer stärkeren Masse am Budget der Institution.
Die Schule, die einem Gemeindespital angeschlossen war,
das hauptsächlich jüdische Patienten betreute, hatte einen
bedeutenden Wandel des Krankenschwesternberufs in Polen
ausgelöst. Die Krankenschwester war als ein
spezialisiertes Dienstmädchen des Arztes angesehen worden.
Aber die Schule, die zusammen mit einer weiteren
Institution von der Rockefeller-Stiftung eingerichtet
wurde, bewirkte, dass Krankenschwestern ein respektiertes
Mitglied der medizinischen Berufe wurden. Die
Krankenschwestern wurden nicht nur besser bezahlt, sondern
die Krankenschwestern konnten nun auch auf ein besseres
soziales Ansehen hoffen. Diese Errungenschaft war für
weitere Projekte des JDC in anderen Tätigkeitsbereichen
beispielgebend.
[Polen?:
JDC-Unterstützung für jüdische Schulen]
Das Schulsystem war ein weiteres Gebiet, wo das JDC in
seinen Aufbauaktivitäten versuchte, gewisse Institutionen
zu unterhalten, um eine junge Generation Juden
auszubilden, die für die Welt der damaligen Zeit gewappnet
sein sollten, ohne aber auf die Art und Weise einer
jüdischen Erziehung verzichten zu müssen, die die Älteren
für die Jungen anstrebten. Gelder flossen normalerweise
über die drei ursprünglich gegründeten Organisationen des
JDC: über das Orthodoxe Zentralkomitee für kriegsversehrte
Juden (Orthodox Central Committee for the Relief of Jews
Suffering through the War), über die sozialistische
Volkshilfe (People's Relief), und über das JDC selbst, das
jeweils als AJRC [American Joint Relief Committee]
auftrat. Das Kulturkomitee des JDC war aus Vertretern
dieser Organisationen zusammengesetzt, und die
verschickten Gelder sollten gemäss einem "Schlüssel"
aufgeteilt verteilt werden
-- 55 % an die Orthodoxen
-- 17,5 % an Arbeiter (eigentlich Jiddische Kultur) und
-- 27,5 % an alle restlichen (Hebräische Tarbuth-Schulen,
assimilatorische Schulen, und einige religiöse Schulen,
die durch das Zentralkomitee nicht unterstützt wurden).
Dieses eher einseitige Arrangement, das bis in die frühen
1930er Jahre dominierte, war eher ein Spiegel der
europäischen Mentalität als der amerikanischen, und
ersetzte das Arrangement von 1920, wobei jede der drei
Gruppen - mehr oder weniger unabhängig voneinander - ihre
eigenen Einrichtungen unterstützte. Die staatliche
Erziehung war für Juden entweder nicht zugänglich oder
antijüdisch, oder sogar beides; demzufolge gingen ungefähr
die Hälfte der jüdischen Schüler in jüdische Schulen.
(Endnote 11:
Es gab 540 orthodoxe Schulen für Buben und 148 (Beth
Yaacov)-Schulen für Mädchen, mit über 81.000 Schülern (die
Mädchen erhielten nur 10 Stunden Schule pro Woche); die
orthodoxe yeshivoth hatte 18.298 Schüler, und weitere 6700
Schüler waren in Abendschulen in der Ausbildung - total
waren das über 106.000 Schüler. Die 471
hebräisch-orientierten Tarbuth-Schulen umfassten 44.370
Schüler, und die 210 jiddischistischen Schulen umfassten
19.500 Schüler; alles zusammen waren dies 170.000 Schüler
in jüdischen Schulen (siehe: Executive Committee, 12/4/30
[4. Dezember 1930]).
[Ab 1924: Polen: Das JDC
gründet die Amerikanisch-Jüdische Aufbaustiftung
(American Jewish Reconstruction Foundation) - die
Kreditkassen]
Dennoch war die Hauptarbeit von Dr. Kahn auf den (S.35)
wirtschaftlichen Wiederaufbau gerichtet. Für dieses Ziel
hatte das Aufbaukomitee des JDC die Kräfte im Jahr 1924 in
der ICA [Jüdische Kolonialgesellschaft] konzentriert, um
die Amerikanisch-Jüdische Aufbaustiftung zu gründen, die
von den beiden Organisationen getragen wurde, von Kahn
(als Vertreter des JDC) und von Dr. Louis Oungre (als
Vertreter der ICA) als Geschäftsführer. Der regierende
Apparat der Stiftung wurde von sechs Mitgliedern der
beiden Gründerorganisationen bestellt, und acht Mitglieder
sollten die jüdischen Führer sein, die die Juden in Polen,
Litauen und Bessarabien vertreten sollten. Die Liste
umfasste einige Arbeitervertreter, einige Vertreter der
Handelskreise, einen orthodoxen Juden, und einen
Palästina-Zionisten. Aber beide orthodoxen Mitglieder
(Jacob Trockenheim) und der Zionist (Berl Locker) sind bei
den Gründungsversammlungen nicht aufgetaucht.
Als Hauptaufgabe der Stiftung war vorgesehen, dass sie
kooperative Kreditinstitutionen einrichten sollte, die als
"Kreditkassen" bekannt waren. Diese Kassen würden das
Grundkapital einfordern, Sicherheiten und Einlagen (bis zu
einem gewissen Grad) akzeptieren, und Geld zu einem
vernünftigen, tiefen Zinssatz ausleihen, hauptsächlich an
jüdische Händler und Handwerker. Die Idee hinter dieser
Bewegung war, dass die Händler - eigentlich Kleingewerbler
- und Handwerker, die die überwiegende Mehrheit der
jüdischen Bevölkerung in Polen und in den osteuropäischen
Ländern ausmachten, darunter litten, dass es für sie keine
günstigen Kredite gab. Wenn man ihnen bei der Finanzierung
in stabiler und geschäftlicher Weise entgegenkam, so
würden sie nicht nur fähig sein, mit den Nichtjuden in
Konkurrenz zu treten, sondern sie würden auch ihre
Selbstachtung als sinnvolle Mitglieder ihrer Gemeinde
wiederfinden. Mit Hilfe der politischen Körperschaften,
miteingeschlossen der Zionisten und Bundisten, (S.36)
Tabelle
1: Kassen der Aufbaustiftung (Reconstruction
Foundation)
|
Jahr
|
Anzahl Kassen
|
Anzahl Mitglieder
|
Investitionsgelder der neuen Stiftung
(net)
|
1929
|
747
|
310.000
|
$ 246.000
|
1930
|
768
|
321.000
|
$ 865.000
|
[Gründung des Verbands
zur Kontrolle der einzelnen Kassen]
wurde ein Zentralverband eingerichtet, bekannt als der
Verband, um die Kontrolle der einzelnen Kassen zu
übernehmen. Ausserdem wurde ein Bank eingerichtet, die als
finanzielles Instrument dienen sollte. Diese
wirtschaftliche Bewegung war unzweifelhaft sehr beliebt.
[1924-1926: Polen: Die
Auswirkung der Kassen: Hilfe nur für kreditwürdige
Juden]
Gut über ein Drittel der jüdischen Bevölkerung in Polen
wurde durch die Kassen erreicht. Die Kredite waren klein,
im Durchschnitt 50 $, und sie wurden normalerweise
rechtzeitig zurückbezahlt; Fälle mit säumigen Schuldnern
waren relativ wenige. Nichtsdestotrotz erreichten diese
Kassen nur jenen Teil der jüdischen Bevölkerung, der noch
in einem gewissen Mass mit einer Limite bewertet
kreditwürdig war; es war ganz klar, dass die ärmeren
Gruppen in dieses Unternehmen nicht miteinbezogen werden
konnten. Auch die ICA [Jüdische Kolonisationsgesellschaft]
sah keinen klaren Weg, den ärmeren Blutsverwandten zu
helfen.
[1926: Polen: Kahn
richtet Kassen mit Barmherzigkeit und zinsfreien
Krediten ein: Freie Kreditkassen - Beliebtheit des
Joint]
Kahn, der Vertreter des JDC, suchte eine Art Lösung, und
im Jahre 1926 richtete er in Polen eine Serie von
Institutionen mit dem traditionellen Namen Freier Kredit
ein, oder Gemiluth Chessed, Kassen Gemiluth chessed (Gabe
aus Barmherzigkeit) war der traditionelle Terminus für das
Almosengeben. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war
die Bedeutung des Begriffs auf die zinsfreien
Kreditkassen ausgedehnt worden. Kahn weitete die Bedeutung
nun weiter aus und richtete Kreditgesellschaften ein, die
in grosser Zahl sehr kleine Kredite ausgeben würden, zu
einem nominal Zinssatz, oder ohne jeglichen Zinssatz. Hier
wurde erneut Grundkapital gebraucht, aber die
niedrigverzinsten JDC-Kredite deckten nun einen viel
grösseren Teil der Bedürfnisse dieser Kassen ab als jene
der Kreditkassen.
Die Freien Kreditkassen erfüllten offensichtlich ein
dringendes Bedürfnis. Bis 1930 wurden in Polen 545
eingerichtet, mit 100.000 Mitgliedern. Die totalen Gelder
kamen auf 1,1 Mio. $, von denen 665.000 $ durch das JDC
investiert worden waren. Ein traditionelles Konzept war
erfolgreich an die moderne Situation angepasst worden, und
folglich stieg die Beliebtheit des Joint unter den
polnischen Juden beträchtlich an.
[Ab 1926: Kahn vom JDC
sucht eine definitive Lösung - Plan einer
Industrialisierung des polnischen Judentums]
Alle diese Unternehmungen milderten das jüdische Leid in
einem beträchtlichen Mass, und waren im Leben der
Millionen Juden in Polen sehr wichtig. Nichtsdestotrotz
war Kahn zu sehr ein Realist uns sah natürlich, dass er
den Kern des jüdischen Wirtschaftsproblems damit nicht
wirklich getroffen hatte. Die Kassen waren wirklich nicht
mehr als ein Instrument, den wirtschaftlichen Schlag
abzudämpfen, unter dem die Juden litten, (S.37)
und dies zu einem viel schlimmeren Grad. Es war ganz
offensichtlich, dass die Ärmsten der Armen - ein Drittel
des polnischen Judentums - nicht einmal von den Freien
Kreditkassen profitieren konnte. Die wertvollen Dollars
für Soforthilfe auszugeben wäre nicht nur herabsetzend,
sondern auch sinnlos. Konnte irgendwas getan werden, um
die Lage zu verändern und den Juden in Polen eine reale
Gelegenheit zu geben, ihr wirtschaftliches Leben wieder
aufzubauen?
Kahn dachte sehr klar, dass das polnische Judentum mittels
der zielbewussten Aktionen von Seiten des amerikanischen
Judentums so verändert werden könne, dass es sich an die
neu heranwachsende polnische Gesellschaft anpassen würde.
Im Sommer 1929 erschien er vor der Führung des JDC in
Zürich anlässlich der dortigen Diskussionen der Jewish
Agency, und er schlug einen Plan für die
Industrialisierung des polnischen Judentums vor.
[1929: Kahns Plan zur
Industrialisierung des polnischen Judentums]
Zu Kahns Plan gab es mehrere Aspekte. Her dachte, dass
Polen industrialisiert werden würde, und dass der
Antisemitismus nicht stark genug sein würde, um die
polnischen Staatsmänner gegenüber der Unabhängigkeit des
polnischen Judentums und gegenüber der polnischen
Wirtschaft blind zu machen. Deshalb sollte es möglich
sein, die Regierung für ein Schema zu gewinnen, das die
Juden in die Wirtschaft integrieren würde. Er nahm an,
dass es einen stetigen Strom von amerikanischem Geld von
ungefähr 1,1 Mio. $ pro Jahr fünf Jahre lang geben würde;
wenn dies sauber umgesetzt würde, so könnte diese nicht
sehr grosse Summe Wunder wirken.
Auch Kahn betrachtete die Auswanderung als keine Lösung,
und er meinte, dass die Probleme des polnischen Judentums
in Polen selbst gelöst werden sollten.
Eine andere Voraussetzung war, dass das Programm durch
amerikanische Juden aufgelegt und durch das JDC umgesetzt
werden würde - in Tat und Wahrheit, durch Kahn. Er scheint
nicht die Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben,
polnische Juden selbst an seinen Planungen oder an der
Ausführung zu beteiligen. Er bestand auch mit absoluter
Klarheit und Überzeugung darauf, dass man nur auf einer
minimalen Fünf-Jahres-Basis planen könne, mit Geldern, die
dieses erste Stadium abdecken würden. Dies war das, was in
Russland getan wurde, und Kahn bezog sich offensichtlich
auf die dortige Erfahrung, um es auch beim polnischen
Judentum zu versuchen.
Nachdem diese Voraussetzungen skizziert worden waren, fuhr
Kahn fort, seinen Plan zu entwickeln.
Wir müssen versuchen, in
den jüdischen Massen eine gesündere, wirtschaftliche
Struktur zu entwickeln, und der jetzige Wettbewerb unter
(S.38)
den verschiedenen jüdischen Klassen sollte aufhören. Man
sollte die wirtschaftliche Situation derart umgestalten,
dass sich die verschiedenen Gruppen aufeinander
verlassen können: Die Arbeiter sollten sich auf die
Handwerker verlassen können, die Händler sollten sich
auf den Industriellen verlassen können etc., und so
würden die einzelnen Teile sich einander wirtschaftlich
ergänzen.
Aber solch ein radikaler Wandel der wirtschaftlichen
Strukturen ist nicht möglich. Die Hauptbeschäftigung der
Juden wird noch für viele Jahre lang dieselbe sein.
Industrie, Geschäft, Handel, Handwerk, Fachberufe, in
denen 70-80 % der Juden beschäftigt sind, werden
weiterhin die Basis ihrer Einkommen bilden.
Diese Berufsfelder müssen reguliert werden, der
Wettbewerb in den kleinen Industrien muss reduziert
werden, und die Produktion muss angepasst werden. Der
Handel ist nicht systematisch, es gibt keinen Befehl
oder keine Rechnung im Geschäft, die Handwerke sind
einseitig, einige Ableger sind überbesetzt, es gibt zu
wenig Variationen und nicht genug Spezialisierung, und
als letztes haben die Handwerker nicht genug Übung und
wenden veraltete Methoden an.
Wenn wir über die "Umschichtung der Massen" reden, so
müssen wir nicht nur versuchen, neue Berufe zu erfinden,
in denen eine grosse Anzahl Juden beschäftigt werden
können, sondern alle Berufe neu zu organisieren. Eine
grosse Anzahl wird von der Industriebranche und vom
Handel ausgeschlossen sein, auch wenn wir alles Mögliche
unternehmen, die jüdische, wirtschaftliche Position im
Handel und in der Industrie zu halten. Jene, die nun
ausgeschlossen sind, können Stellen als Angestellte
finden.
Eine Wiederbelebung des jüdischen Handels und der
Industrie wird für Angestellte wieder normale
Bedingungen bringen. Überall übernehmen nun Angestellte
die Plätze der unabhängigen Kleinhändler und
Kleinindustriellen. Die Anzahl der Angestellten steigt
schnell, viel schneller im Verhältnis zur Anzahl
Arbeiter. ...
Ein weiteres Mittel, die grösseren jüdischen Massen an
die neue Wirtschaftsordnung anzupassen, war die
Industrialisierung. Bislang waren es vergleichsweise
wenige jüdische Fabrikarbeiter und Industriearbeiter
gewesen, die zu Hause für Fabriken und Werkstätten bzw.
in kleinen Werkstätten arbeiteten. Mechaniker sind sie
nicht. Der Fortschritt in der Maschinenentwicklung hat
diese Leute zu Arbeitslosen gemacht und hält mehr
jüdische Arbeiter vor einer Beschäftigung ab. Auch
Handwerker müssen in Häusern Arbeit finden, wo Maschinen
gebraucht werden, wenn sie sicher sein wollen, eine
Anstellung zu finden.
Es ist wohlbekannt, dass die jüdischen Arbeiter,
speziell die jüdischen Industriearbeiter und die
Fabrikarbeiter, arbeitslos sind. es ist weiter bekannt,
dass die Massen der jüdischen Arbeiter keine Mechaniker,
und dass es beim "Schichtwechsel der Massen" es absolut
notwendig ist, über grössere Gruppen jüdischer Arbeiter
in der Industrie und in den Fabriken verfügen zu können.
Mit unseren kleinen Mitteln haben wir in Lodz einen
Start gemacht. Hier haben wir - zusammen mit jüdischen
Produzenten, in die Prozesse einer kleinen (S.39)
Textilfabrik eingegriffen, wo Arbeiter angestellt sind,
und wo jüdische Weber an Maschinen arbeiten, die nach
einer kurzen Ausbildungszeit, in jüdischen Fabriken
arbeiten können, so dass nun eine dauernde Weiterbildung
von jüdischen Arbeitern im Gange ist. ...
Wenn wir fähig sind, diese Arbeit weiter zu
organisieren, so glaube ich, dass nach ein paar Jahren
wir die Position der Juden gestärkt haben werden, bis zu
einem Grad, dass für sie eine andauernde erfolgreiche
Entwicklung einsetzen wird.
(Endnote 12: Ordner 42, 7/10/29 [10. Juli 1929])
Die finanziellen Erfordernisse waren sehr bescheiden;
neben dem normalen Kahn-Budget, das in vielen Teilen
dieselbe Art Arbeit beinhaltete wie zuvor, würde er
625.000 $ pro Jahr mehr verlangen, um mit einem
Minimalprogramm seine Vorschläge in die Tat umzusetzen:
vor allem sollten Organisationen von Fabriken unterstützt
werden, wo Juden angestellt waren, um jüdische, junge
Leute zu Fabrikarbeitern auszubilden.
Kahns Industrialisierungsplan war ein erfinderischer
Versuch, das wirtschaftliche Problem der jüdischen Massen
durch moderne Mittel anzugehen. Der Plan stand auch im
Einklang mit einer wirtschaftlichen Entwicklung in
Osteuropa. Er war verwegen, und er basierte auf einer
Anzahl harter Fakten, und der Plan wäre in der Hand eines
erstklassigen Verwalters und ökonomischen Experten.
[November 1929: Der
Börsencrash in New York zerstört alle Pläne - polnischer
Antisemitismus hätte den Plan blockiert - die Frage nach
einem Markt für jüdische Produkte]
Aber der Plan wurde nie umgesetzt, weil Ende 1929 die
grosse Depression einsetzte. Nichtsdestotrotz ist es
zweifelhaft, ob der Plan je eine reelle Chance auf eine
erfolgreiche Umsetzung gehabt hätte. Der Plan nahm
freundlicherweise an, dass Antisemitismus ein
wirtschaftliches Phänomen sei, dass dem polnischen
Judentum geholfen werden musste, und dass dann die
anlaufenden Gelder für die polnische Gesellschaft die
antijüdischen Gefühle in der Bevölkerung neutralisieren
würden, ebenso in der Regierung. Ohne die Hilfe - oder
zumindest eine wohlwollende Neutralität - der polnischen
Regierung war es undenkbar, dass das Projekt Erfolg haben
könnte.
Noch wichtiger war, dass das Projekt annahm, dass man die
jüdische Wirtschaft in Polen umgestalten könne, ohne
gleichzeitig die polnische Wirtschaft selbst
umzugestalten. Das scheint ein Trugschluss gewesen zu sein
- und das Verteilungskomitee JDC war nicht wirklich stark
genug, auch nicht zur Zeit des Wachstums, um in ganz Polen
die Probleme zu lösen. Kahn dachte auch, dass durch reine
Exportverträge jüdische Produkte einen Markt finden
würden. Dies war eine Annahme, die auf der Existenz
wachsender Bedingungen in den USA und anderswo beruhte.
Aber für Europa war das Jahr 1929 kein sehr gutes (S.40)
Jahr, und wir erwähnten schon die Missernten im Osten, die
die Kaufkraft der Bauern geschmälert hatten. Wenn die
Position der Bauern sich nicht verbesserte, wer würde dann
die jüdischen Produkte kaufen - oder jedwelche andere
Produkte in diesem Zusammenhang?
[Russland: Die
Integration des sowjetischen Judentums - Kahns Plan für
Juden in Polen hätte nur mit einer wachsenden Wirtschaft
funktioniert]
Der Erfolg der wirtschaftlichen Integration des
sowjetischen Judentums einige Jahre später war ein gutes
Beispiel für die Möglichkeiten in anderen Ländern. Im
sowjetischen Russland kam die Lösung des
Wirtschaftsproblems, als die Juden als Arbeiter in der
schnell wachsenden Wirtschaft akzeptiert wurden, wo
Arbeitermangel herrschte. Ohne eine wachsende Wirtschaft
ist es somit schwierig, wie Kahns Industrialisierungplan
in Polen hätte funktionieren sollen. Also muss man sich in
Erinnerung rufen: Von all jenen, die versuchten, für das
polnisch-jüdische Problem eine Lösung zu finden, kam Kahn
am ehesten an eine positive und praktikable Lösung. Es war
nicht sein Fehler, dass sein Programm nie umgesetzt wurde.