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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 1. Krisenzeit: 1929-1932

[1.7. Wirtschaftspolitik gegen die Juden Osteuropas ab 1919 - Methoden - das speziell antisemitische Polen]

[Ab 1919: Polen: Antijüdisches Steuersystem: 10 % der Bevölkerung bezahlt 40 % der Steuern - Raub]

In all diesen Ländern wurden zuerst Steuern auf Händler und Handwerker eingeführt - zum grossen Teil betraf dies Juden. Dies wurde so gemacht, weil die Regierung einerseits die Bauern, und andererseits die mächtige Klasse der Landbesitzer und der Grosshändler nicht verärgern wollte. Die Juden in Polen, die 10 % der Bevölkerung stellten, musste 40 % der Steuern bezahlen. Aber obwohl sie so viele Steuern bezahlten, war die Regierung gleichzeitig kaum gewillt, den Juden von diesen vielen Steuergeldern auch staatliche Leistungen zukommen zu lassen. Subventionen an jüdische Institutionen waren lächerlich klein,

[Ab 1919: Osteuropa: Keine Wirtschaftshilfe an Juden]

und Pläne der Regierungen, die auch nur schriftlich festgelegt hätten, die jüdisch-wirtschaftlichen Probleme in Polen, Rumänien oder in den Baltenstaaten zu erleichtern, gab es nicht.

[Ab 1919: Osteuropa: Juden sind eine Nation - Juden sind Feinde]

Das wirtschaftliche Problem war der Hauptgrund der antisemitischen Gefühle. Durch den modernen Nationalismus wurden die Juden als Ausländer und somit auch als Feinde angesehen. Dauernd wurden antijüdische Exzesse gemeldet, die durch wirtschaftliche Faktoren ausgelöst wurden, durch religiöse Vorurteile, oder durch nationalistische Hetzerei.

[Lodsch Oktober 1928: Streik gegen jüdische Arbeiter - Propaganda für einen Boykott gegen Juden]

Im Oktober 1928 führten polnische Fabrikarbeiter in Lodsch (Lodz) einen Streik durch, um gegen die Anstellung von Juden zu protestieren. Ein antijüdischer Boykott wurde von der nationaldemokratischen Oppositionspartei (Endek) propagiert, um dem Regime von Marschall Pilsudski, ein starker polnischer Mann, ein Zeichen zu setzen.

In Lublin und Vilna wurden im Jahre 1929 Geschichten über Ritualmorde in Umlauf gebracht. In Bialoczow und in Zaleszczyki kam es zu Angriffen auf die jüdische Bevölkerung.

[1929-1932: Osteuropa: Ausschreitungen gegen Juden]

Schwere (S.29)

Ausschreitungen ereigneten sich im Juni 1929 in Lemberg (Lwow). Unter anderem wurden zwei Synagogen, ein jüdisches Verlagshaus, und einige jüdische Häuser zerstört. Im Herbst 1929 ereigneten sich weitere Ausschreitungen in Volkovysk und in Litauen mit 20 verletzten Juden. In Rumänien kam es dauernd zu antijüdischen Ausschreitungen. Ende 1929 kam es auch in Chisme bei Ismail zu Ausschreitungen, und Studenten hielten in Klausenburg [rum. Cluj, ung. Kolozsvár] und in anderen Städten antijüdische Veranstaltungen ab. Dasselbe Muster wiederholte sich, gleichzeitig in ermüdender wie in gefährlicher Weise, in den Jahren 1930, 1931 und 1932, noch bevor der Nazi-Antisemitismus seinen grossen Sieg errungen hatte.

[1919-1931: Polen: Diskriminierung durch antijüdisches Wirtschaftsrecht wird vom russischen Recht übernommen]

Das diskriminierende Recht gegen Juden in Polen war ein Überrest der zaristischen Gesetzgebung. Polen (Kongresspolen) war vor 1919 ein Teil des russischen Reiches gewesen. Die antijüdischen Wirtschaftsgesetze blieben trotz der Konvention des Versailler Vertrags zum Schutz der Minderheiten von 1919 noch für weitere 13 Jahre in Kraft. Unter diesen Gesetzen

-- wurde die Aufnahme jüdischer Patienten in Spitälern abgelehnt, die durch das allgemeine Steueraufkommen finanziert wurden
-- wurde Juden verboten, Staatsland zu pachten
-- wurden Juden bestraft, wenn sie ihre Namen änderten (von jüdisch klingenden in polnisch klingende Namen)
-- wurde Juden verboten, in Ortsverwaltungen zu arbeiten
-- wurde Juden, die an Grenzen wohnten, in eine Entfernung zur Grenze deportiert, um "Schmuggel vorzubeugen"
-- wurde Juden verboten, sich im Bergbau zu engagieren.

Diese Gesetze wurden bis März 1931 nicht abgeschafft.

[1919-1931: Die meisten der polnisch-jüdischen Organisationen boykottieren die polnische Regierung - Ausnahme Agudah]

Im Grossen und Ganzen war die polnische Regierung von Pilsudskis Anhängern nicht offen oder gewaltsam antisemitisch, aber ab dem Zeitpunkt, als die Regierung nicht mehr die grosse Mehrheit der Bevölkerung hinter sich hatte, bekam die Regierung Angst, nicht mehr die antijüdische Mehrheit der Bauern und der Stadtbevölkerung hinter sich zu haben. Somit tat die Regierung nur wenig, um die Juden zu schützen. Die meisten der jüdischen Parteien - Zionisten, Bundisten,

(Fussnote: Der Bund (Allgemeiner Yiddischer Arbeter-Bund), wurde 1898 gegründet und war eine antizionistische, jüdisch-sozialistische Partei mit einer grossen Anhängerschaft in Polen)

und die Yiddischen Autonomisten

(Fussnote: Yiddische Autonomisten ("Folkisten"), eine Bewegung des Mittelstandes und niedrigeren Mittelstandes, hatte das Ziel, in der Diaspora ein jüdisches, nationales Leben auf der Basis der kulturellen Autonomie zu verwirklichen)

- lehnten es ab, in den Kreis der Pilsudski-Unterstützer hineingezogen zu werden, und (S.30)

nur die orthodoxe Agudah

(Fussnote: Agudat Yisrael war eine ultra-orthodoxe Bewegung, zuerst antizionistisch, dann wurde sie langsam nichtzionistisch. Ein Teil der Sektion der Arbeiterklasse (Poalei Agudat Yisrael) wurde dann mit der Zeit zur Unterstützerin eines radikalen, orthodoxen Zionismus).

brachen die jüdische Solidarität, indem sie Teil des Regierungsblocks wurden. Im Gegenzug wurde der Agudah im Wahlrecht für jüdische Gemeinden Rechte gewährt, die es ermöglichten, Wahlen durch den Ausschluss von Personen zu beeinflussen, die "öffentlich" ihr Missfallen über die jüdische Religion zum Ausdruck brachten. Diese Bestimmung befähigte die Agudah, viele ihrer Widersacher aus der Verwaltung jüdischer Gemeinden auszuschalten.

[Ab 1924: Polen in der wirtschaftlichen Depression - Diskriminierung von Juden im öffentlichen Dienst]

Die polnische Wirtschaftskrise 1924-1926 wandelte sich in eine halb-dauerhafte Depression, die durch die eigenständige und nationalistische Regierungspolitik noch verschlimmert wurde. Es existierte eine beträchtliche verwaltungsmässige Diskriminierung. Juden machten in Warschau ungefähr ein Drittel der Bevölkerung aus. Allgemein waren 27,3 % der polnischen Stadtbevölkerung Juden. Aber ihre Beteiligung an den Gemeindeverwaltungen im ganzen Land betrug im Jahr nur 3,4 %. In Kongresspolen war im Postdienst nur 1 Jude angestellt. Von 4342 Angestellten der Warschauer Trolleybusbetriebe waren nur 2 Juden. Unter den 20.000 Angestellten der Stadt Warschau waren gerade einmal 50 Juden. In der Staatsverwaltung und in den Gerichten betrug der jüdische Anteil gerade einmal 2 Prozent; in der Polizei, beim Zoll, und bei den Gefängnisangestellten machte der jüdische Anteil 0,18 Prozent aus.

(Endnote 6: R. Mahler: Jews in Public Service and the Liberal Professions in Poland [Juden im öffentlichen Dienst und in liberalen Berufen in Polen 1918-39]; In: Jewish Social Studies 6, Nr. 4 (Oktober 1944)

[Ab 1924: Polen in einer Wirtschaftskrise - Diskriminierung jüdischer Schulen und jüdischer Studenten]

Jüdische Schulen wurden von Juden unterhalten, und die Regierung gab nur lächerlich kleine Beiträge. Von den 300 Millionen Zloty im Büdget des Erziehungsministeriums im Jahre 1930/1931 wurden den jüdischen Schulen 242.000 Zloty zugeteilt; später bekamen sie noch weniger. Somit mussten die Juden also auch noch ihre eigenen Schulen unterstützen. Gleichzeitig wurden in staatlichen Schulen die jüdischen Schulkinder laufend in jeglicher Art und Weise immer mehr diskriminiert, so dass jüdische Schulkinder immer mehr in die jüdischen Schulen drängten. Die Anzahl der jüdischen Studenten in polnisch-akademischen Institutionen zwischen 1925 und 1931 nahm um 10 % ab, während die Anzahl der Studenten generell um 15 % zunahm.

(Endnote 7: ebenda. [R. Mahler: Jews in Public Service and the Liberal Professions in Poland, 1918-39; In: Jewish Social Studies 6, Nr. 4 (Oktober 1944)])

[Ab 1927: Polnisches neues Handwerkergesetz gegen jüdische Handwerker und Hausierer]

Ab 1927 waren die Handwerker strengeren Gesetzen unterworfen. Die Regierung gab vor, die Produktion modernisieren zu wollen, (S.31)

aber diese Gesetze hatten nur wenig mit einer Modernisierung zu tun, sondern waren Ausdruck von Nationalismus und Antisemitismus.Durch ein Dekret vom 12. Dezember 1927 wurde jeder Handwerker gezwungen, auf Polnisch eine Prüfung in Geschichte, Geographie und Sprache zu absolvieren, wie wenn dies lebenswichtige Voraussetzungen für polnische Juden gewesen wären, die 20 oder 30 Jahre lang ein zufriedenes Leben als Schuhmacher geführt hatten. Die älteren Leute, die kein Polnisch konnten, das über den täglichen Bedarf hinausging, und die kein polnische Geographie oder Geschichte studiert hatten oder Interesse gezeigt hatten, dies zu studieren, wurden nun gezwungen, in die Schule zu gehen und sich den Prüfungen zu unterwerfen. Für Handwerker wie für Händler wurden Lizenzen eingeführt. Von jungen Leuten wurde nun von den Behörden eine dreijährige Lehre bei einem anerkannten Meister verlangt, bzw. es wurde eine dreijährige Handelsschule verlangt. Für die 150.000 Familien der jüdischen Handwerker, war dies eine schreckliche Katastrophe. Die 345.000 Kleinhändler und Hausierer mussten nun für die Lizenzen Gebühren bezahlen, die sie schlichtweg nicht aufbringen konnten, und ihre Lage war genau so schlimm wie die der Handwerker.

[Ab 1924 ca.: Tabakindustrie und Alkoholindustrie werden in Polen zum Staatsmonopol - Juden entlassen]

Den jüdischen Arbeitern und Angestellten in Polen erging es nicht besser. Von 3000 Juden in der Tabakindustrie wurden bis auf 440 alle entlassen, als der Tabak zum Staatsmonopol wurde. Dasselbe geschah in der Alkoholindustrie, wo "in einer der grössten Destillerien die Verwaltung kategorisch erklärte, dass sie mündliche Anweisung hätte, keine Juden mehr zu beschäftigen."

(Endnote 8: Landau Berichte, 1929-31, Akte 139)

[Späte 1920er Jahre: Polen entlässt alle Juden von der Eisenbahn]

6000 Juden, die bei der Eisenbahn angestellt waren, wurden in den späten 1920er Jahren entlassen.

[1929: Polens Monopol in der Holzindustrie ohne Juden]

In der Holzindustrie waren 25.000 Juden beschäftigt, aber bis 1929 arbeitete in der verstaatlichten Holzindustrie kein einziger Jude mehr.

[1931: Polen: Weit verbreitete Armut in der jüdischen Bevölkerung]

Im Jahr 1931 sah die Lage gemäss dem bekannten jüdischen Statistiker Jacob Lestschinsky so aus:

-- 48,86 % der polnischen Juden hatten ein Einkommen von weniger als 50 Zloty (10 $) pro Woche,
-- 29,06 % zwischen 50 und 100 Zloty
-- und nur 17,25 % über 100 Zloty.

(Endnote 9: Zitiert bei Faust; In: Book of American Federation of Polish Jews. 25th annual convention, June 11-12, 1933 [Buch der Amerikanischen Gesellschaft der Polnischen Juden. 25. Jahresversammlung, 11.-12. Juni 1933])

Das Resultat von all dem war eine sich verschlimmernde Not. Bis 1929 waren zwischen 25 und 30 % der polnischen Juden auf dem Existenzminimum. Es musste schnell etwas geschehen.

[Späte 1920er Jahre: Jüdische Armut im rumänischen Bessarabien, in der Bukowina und in Nord-Transylvanien]

Zu einer ebenso schrecklichen Situation kam es im rumänischen Bessarabien, in der Bukowina, in Teilen von Nord-Transylvanien, und auch im russischen Teil von Subkarpatien. (S.32)

Dort lebten eine primitive, jüdische Landbevölkerung unter den noch primitiveren örtlichen Bauern und Schäfern. In den späten 1920er Jahren kam es - wie vorher schon kurz beschrieben - zu denselben wirtschaftlichen Krisensituationen. Die rumänischen, nationalistischen Studenten machten antisemitische Propaganda, die grossen Anklang fand. Sie wurden von deutschen Kolonisten unterstützt. Die Lage wurde durch eine Missernte in Bessarabien 1928/1929 noch verschärft. Die Regierung war überhaupt keine Hilfe, denn die neue Bauernregierung von Juliu Maniu, die im Dezember 1928 eingesetzt wurde, versprach, dass gegen die Antisemiten eine harte Linie gefahren würde. Die jüdische Gemeinde selbst war gespalten. Die Union der Hebräischen Gesellschaft und der Bukarester Gemeinde (angeführt von Dr. Wilhelm Filderman, ein Freund des JDC) unterstützte die liberale Partei, die in den Wahlen besiegt worden war. Andere wie die Zionisten wollten unabhängig sein, während die Agudisten Maniu unterstützten. Die neue Regierung verabschiedete auch ein Gemeindegesetz, das in etwa dem oben erwähnten polnischen Gesetz entsprach, und das auch von den agudistischen Rabbinern beeinflusst war.

Die schlimmste aller Situation traf das JDC in Nord-Transylvanien an, in den Gebieten von Máramarossziget und Satu-Mare. Dort herrschte eine extreme Armut, und das kleinste ökonomische und politische Problem konnte dort Not hervorrufen, was dann auch geschah.

[Späte 1920er Jahre: Osteuropa: Nicht integrierte Juden, Wirtschaftskrisen und Nationalismus provozieren den Ausschluss der Juden]

Dies war nun die Situation, mit der die osteuropäischen Juden konfrontiert waren: Die neu sich formierenden Nationen, die damit beschäftigt waren, die schmerzliche Umstrukturierung in moderne Wirtschaften zu vollziehen, bestimmten, die Juden aus dem Wirtschaftsleben auszuschliessen. Bis dahin waren Juden die traditionellen Mittelständler zwischen Stadt und Land. Sie passten nun nicht mehr ins wirtschaftliche Bild. Sie wurden vom versprochenen Wirtschaftswachstum und vom politischen Einfluss ausgeschlossen. Juden wurden zu sprachlichen, religiösen und kulturellen Ausländern. Juden wurden gehasst und verachtet. Der Jude war das erste Opfer jeder wirtschaftlichen und sozialen Unruhe.



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