Kapitel 1. Krisenzeit: 1929-1932
[1.7.
Wirtschaftspolitik gegen die Juden Osteuropas ab 1919
- Methoden - das speziell antisemitische Polen]
[Ab 1919: Polen:
Antijüdisches Steuersystem: 10 % der Bevölkerung bezahlt
40 % der Steuern - Raub]
In all diesen Ländern wurden zuerst Steuern auf Händler
und Handwerker eingeführt - zum grossen Teil betraf dies
Juden. Dies wurde so gemacht, weil die Regierung
einerseits die Bauern, und andererseits die mächtige
Klasse der Landbesitzer und der Grosshändler nicht
verärgern wollte. Die Juden in Polen, die 10 % der
Bevölkerung stellten, musste 40 % der Steuern bezahlen.
Aber obwohl sie so viele Steuern bezahlten, war die
Regierung gleichzeitig kaum gewillt, den Juden von diesen
vielen Steuergeldern auch staatliche Leistungen zukommen
zu lassen. Subventionen an jüdische Institutionen waren
lächerlich klein,
[Ab 1919: Osteuropa:
Keine Wirtschaftshilfe an Juden]
und Pläne der Regierungen, die auch nur schriftlich
festgelegt hätten, die jüdisch-wirtschaftlichen Probleme
in Polen, Rumänien oder in den Baltenstaaten zu
erleichtern, gab es nicht.
[Ab 1919: Osteuropa:
Juden sind eine Nation - Juden sind Feinde]
Das wirtschaftliche Problem war der Hauptgrund der
antisemitischen Gefühle. Durch den modernen Nationalismus
wurden die Juden als Ausländer und somit auch als Feinde
angesehen. Dauernd wurden antijüdische Exzesse gemeldet,
die durch wirtschaftliche Faktoren ausgelöst wurden, durch
religiöse Vorurteile, oder durch nationalistische
Hetzerei.
[Lodsch Oktober 1928:
Streik gegen jüdische Arbeiter - Propaganda für einen
Boykott gegen Juden]
Im Oktober 1928 führten polnische Fabrikarbeiter in Lodsch
(Lodz) einen Streik durch, um gegen die Anstellung von
Juden zu protestieren. Ein antijüdischer Boykott wurde von
der nationaldemokratischen Oppositionspartei (Endek)
propagiert, um dem Regime von Marschall Pilsudski, ein
starker polnischer Mann, ein Zeichen zu setzen.
In Lublin und Vilna wurden im Jahre 1929 Geschichten über
Ritualmorde in Umlauf gebracht. In Bialoczow und in
Zaleszczyki kam es zu Angriffen auf die jüdische
Bevölkerung.
[1929-1932: Osteuropa:
Ausschreitungen gegen Juden]
Schwere (S.29)
Ausschreitungen ereigneten sich im Juni 1929 in Lemberg
(Lwow). Unter anderem wurden zwei Synagogen, ein jüdisches
Verlagshaus, und einige jüdische Häuser zerstört. Im
Herbst 1929 ereigneten sich weitere Ausschreitungen in
Volkovysk und in Litauen mit 20 verletzten Juden. In
Rumänien kam es dauernd zu antijüdischen Ausschreitungen.
Ende 1929 kam es auch in Chisme bei Ismail zu
Ausschreitungen, und Studenten hielten in Klausenburg
[rum. Cluj, ung. Kolozsvár] und in anderen Städten
antijüdische Veranstaltungen ab. Dasselbe Muster
wiederholte sich, gleichzeitig in ermüdender wie in
gefährlicher Weise, in den Jahren 1930, 1931 und 1932,
noch bevor der Nazi-Antisemitismus seinen grossen Sieg
errungen hatte.
[1919-1931: Polen:
Diskriminierung durch antijüdisches Wirtschaftsrecht
wird vom russischen Recht übernommen]
Das diskriminierende Recht gegen Juden in Polen war ein
Überrest der zaristischen Gesetzgebung. Polen
(Kongresspolen) war vor 1919 ein Teil des russischen
Reiches gewesen. Die antijüdischen Wirtschaftsgesetze
blieben trotz der Konvention des Versailler Vertrags zum
Schutz der Minderheiten von 1919 noch für weitere 13 Jahre
in Kraft. Unter diesen Gesetzen
-- wurde die Aufnahme jüdischer Patienten in Spitälern
abgelehnt, die durch das allgemeine Steueraufkommen
finanziert wurden
-- wurde Juden verboten, Staatsland zu pachten
-- wurden Juden bestraft, wenn sie ihre Namen änderten
(von jüdisch klingenden in polnisch klingende Namen)
-- wurde Juden verboten, in Ortsverwaltungen zu arbeiten
-- wurde Juden, die an Grenzen wohnten, in eine Entfernung
zur Grenze deportiert, um "Schmuggel vorzubeugen"
-- wurde Juden verboten, sich im Bergbau zu engagieren.
Diese Gesetze wurden bis März 1931 nicht abgeschafft.
[1919-1931: Die meisten
der polnisch-jüdischen Organisationen boykottieren die
polnische Regierung - Ausnahme Agudah]
Im Grossen und Ganzen war die polnische Regierung von
Pilsudskis Anhängern nicht offen oder gewaltsam
antisemitisch, aber ab dem Zeitpunkt, als die Regierung
nicht mehr die grosse Mehrheit der Bevölkerung hinter sich
hatte, bekam die Regierung Angst, nicht mehr die
antijüdische Mehrheit der Bauern und der Stadtbevölkerung
hinter sich zu haben. Somit tat die Regierung nur wenig,
um die Juden zu schützen. Die meisten der jüdischen
Parteien - Zionisten, Bundisten,
(Fussnote: Der Bund (Allgemeiner Yiddischer Arbeter-Bund),
wurde 1898 gegründet und war eine antizionistische,
jüdisch-sozialistische Partei mit einer grossen
Anhängerschaft in Polen)
und die Yiddischen Autonomisten
(Fussnote: Yiddische Autonomisten ("Folkisten"), eine
Bewegung des Mittelstandes und niedrigeren Mittelstandes,
hatte das Ziel, in der Diaspora ein jüdisches, nationales
Leben auf der Basis der kulturellen Autonomie zu
verwirklichen)
- lehnten es ab, in den Kreis der Pilsudski-Unterstützer
hineingezogen zu werden, und (S.30)
nur die orthodoxe Agudah
(Fussnote: Agudat Yisrael war eine ultra-orthodoxe
Bewegung, zuerst antizionistisch, dann wurde sie langsam
nichtzionistisch. Ein Teil der Sektion der Arbeiterklasse
(Poalei Agudat Yisrael) wurde dann mit der Zeit zur
Unterstützerin eines radikalen, orthodoxen Zionismus).
brachen die jüdische Solidarität, indem sie Teil des
Regierungsblocks wurden. Im Gegenzug wurde der Agudah im
Wahlrecht für jüdische Gemeinden Rechte gewährt, die es
ermöglichten, Wahlen durch den Ausschluss von Personen zu
beeinflussen, die "öffentlich" ihr Missfallen über die
jüdische Religion zum Ausdruck brachten. Diese Bestimmung
befähigte die Agudah, viele ihrer Widersacher aus der
Verwaltung jüdischer Gemeinden auszuschalten.
[Ab 1924: Polen in der
wirtschaftlichen Depression - Diskriminierung von Juden
im öffentlichen Dienst]
Die polnische Wirtschaftskrise 1924-1926 wandelte sich in
eine halb-dauerhafte Depression, die durch die
eigenständige und nationalistische Regierungspolitik noch
verschlimmert wurde. Es existierte eine beträchtliche
verwaltungsmässige Diskriminierung. Juden machten in
Warschau ungefähr ein Drittel der Bevölkerung aus.
Allgemein waren 27,3 % der polnischen Stadtbevölkerung
Juden. Aber ihre Beteiligung an den Gemeindeverwaltungen
im ganzen Land betrug im Jahr nur 3,4 %. In Kongresspolen
war im Postdienst nur 1 Jude angestellt. Von 4342
Angestellten der Warschauer Trolleybusbetriebe waren nur 2
Juden. Unter den 20.000 Angestellten der Stadt Warschau
waren gerade einmal 50 Juden. In der Staatsverwaltung und
in den Gerichten betrug der jüdische Anteil gerade einmal
2 Prozent; in der Polizei, beim Zoll, und bei den
Gefängnisangestellten machte der jüdische Anteil 0,18
Prozent aus.
(Endnote 6: R. Mahler: Jews in Public Service and the
Liberal Professions in Poland [Juden im öffentlichen
Dienst und in liberalen Berufen in Polen 1918-39]; In:
Jewish Social Studies 6, Nr. 4 (Oktober 1944)
[Ab 1924: Polen in einer
Wirtschaftskrise - Diskriminierung jüdischer Schulen und
jüdischer Studenten]
Jüdische Schulen wurden von Juden unterhalten, und die
Regierung gab nur lächerlich kleine Beiträge. Von den 300
Millionen Zloty im Büdget des Erziehungsministeriums im
Jahre 1930/1931 wurden den jüdischen Schulen 242.000 Zloty
zugeteilt; später bekamen sie noch weniger. Somit mussten
die Juden also auch noch ihre eigenen Schulen
unterstützen. Gleichzeitig wurden in staatlichen Schulen
die jüdischen Schulkinder laufend in jeglicher Art und
Weise immer mehr diskriminiert, so dass jüdische
Schulkinder immer mehr in die jüdischen Schulen drängten.
Die Anzahl der jüdischen Studenten in
polnisch-akademischen Institutionen zwischen 1925 und 1931
nahm um 10 % ab, während die Anzahl der Studenten generell
um 15 % zunahm.
(Endnote 7: ebenda. [R. Mahler: Jews in Public Service and
the Liberal Professions in Poland, 1918-39; In: Jewish
Social Studies 6, Nr. 4 (Oktober 1944)])
[Ab 1927: Polnisches
neues Handwerkergesetz gegen jüdische Handwerker und
Hausierer]
Ab 1927 waren die Handwerker strengeren Gesetzen
unterworfen. Die Regierung gab vor, die Produktion
modernisieren zu wollen, (S.31)
aber diese Gesetze hatten nur wenig mit einer
Modernisierung zu tun, sondern waren Ausdruck von
Nationalismus und Antisemitismus.Durch ein Dekret vom 12.
Dezember 1927 wurde jeder Handwerker gezwungen, auf
Polnisch eine Prüfung in Geschichte, Geographie und
Sprache zu absolvieren, wie wenn dies lebenswichtige
Voraussetzungen für polnische Juden gewesen wären, die 20
oder 30 Jahre lang ein zufriedenes Leben als Schuhmacher
geführt hatten. Die älteren Leute, die kein Polnisch
konnten, das über den täglichen Bedarf hinausging, und die
kein polnische Geographie oder Geschichte studiert hatten
oder Interesse gezeigt hatten, dies zu studieren, wurden
nun gezwungen, in die Schule zu gehen und sich den
Prüfungen zu unterwerfen. Für Handwerker wie für Händler
wurden Lizenzen eingeführt. Von jungen Leuten wurde nun
von den Behörden eine dreijährige Lehre bei einem
anerkannten Meister verlangt, bzw. es wurde eine
dreijährige Handelsschule verlangt. Für die 150.000
Familien der jüdischen Handwerker, war dies eine
schreckliche Katastrophe. Die 345.000 Kleinhändler und
Hausierer mussten nun für die Lizenzen Gebühren bezahlen,
die sie schlichtweg nicht aufbringen konnten, und ihre
Lage war genau so schlimm wie die der Handwerker.
[Ab 1924 ca.:
Tabakindustrie und Alkoholindustrie werden in Polen zum
Staatsmonopol - Juden entlassen]
Den jüdischen Arbeitern und Angestellten in Polen erging
es nicht besser. Von 3000 Juden in der Tabakindustrie
wurden bis auf 440 alle entlassen, als der Tabak zum
Staatsmonopol wurde. Dasselbe geschah in der
Alkoholindustrie, wo "in einer der grössten Destillerien
die Verwaltung kategorisch erklärte, dass sie mündliche
Anweisung hätte, keine Juden mehr zu beschäftigen."
(Endnote 8: Landau Berichte, 1929-31, Akte 139)
[Späte 1920er Jahre:
Polen entlässt alle Juden von der Eisenbahn]
6000 Juden, die bei der Eisenbahn angestellt waren, wurden
in den späten 1920er Jahren entlassen.
[1929: Polens Monopol in
der Holzindustrie ohne Juden]
In der Holzindustrie waren 25.000 Juden beschäftigt, aber
bis 1929 arbeitete in der verstaatlichten Holzindustrie
kein einziger Jude mehr.
[1931: Polen: Weit
verbreitete Armut in der jüdischen Bevölkerung]
Im Jahr 1931 sah die Lage gemäss dem bekannten jüdischen
Statistiker Jacob Lestschinsky so aus:
-- 48,86 % der polnischen Juden hatten ein Einkommen von
weniger als 50 Zloty (10 $) pro Woche,
-- 29,06 % zwischen 50 und 100 Zloty
-- und nur 17,25 % über 100 Zloty.
(Endnote 9: Zitiert bei Faust; In: Book of American
Federation of Polish Jews. 25th annual convention, June
11-12, 1933 [Buch der Amerikanischen Gesellschaft der
Polnischen Juden. 25. Jahresversammlung, 11.-12. Juni
1933])
Das Resultat von all dem war eine sich verschlimmernde
Not. Bis 1929 waren zwischen 25 und 30 % der polnischen
Juden auf dem Existenzminimum. Es musste schnell etwas
geschehen.
[Späte 1920er Jahre:
Jüdische Armut im rumänischen Bessarabien, in der
Bukowina und in Nord-Transylvanien]
Zu einer ebenso schrecklichen Situation kam es im
rumänischen Bessarabien, in der Bukowina, in Teilen von
Nord-Transylvanien, und auch im russischen Teil von
Subkarpatien. (S.32)
Dort lebten eine primitive, jüdische Landbevölkerung unter
den noch primitiveren örtlichen Bauern und Schäfern. In
den späten 1920er Jahren kam es - wie vorher schon kurz
beschrieben - zu denselben wirtschaftlichen
Krisensituationen. Die rumänischen, nationalistischen
Studenten machten antisemitische Propaganda, die grossen
Anklang fand. Sie wurden von deutschen Kolonisten
unterstützt. Die Lage wurde durch eine Missernte in
Bessarabien 1928/1929 noch verschärft. Die Regierung war
überhaupt keine Hilfe, denn die neue Bauernregierung von
Juliu Maniu, die im Dezember 1928 eingesetzt wurde,
versprach, dass gegen die Antisemiten eine harte Linie
gefahren würde. Die jüdische Gemeinde selbst war
gespalten. Die Union der Hebräischen Gesellschaft und der
Bukarester Gemeinde (angeführt von Dr. Wilhelm Filderman,
ein Freund des JDC) unterstützte die liberale Partei, die
in den Wahlen besiegt worden war. Andere wie die Zionisten
wollten unabhängig sein, während die Agudisten Maniu
unterstützten. Die neue Regierung verabschiedete auch ein
Gemeindegesetz, das in etwa dem oben erwähnten polnischen
Gesetz entsprach, und das auch von den agudistischen
Rabbinern beeinflusst war.
Die schlimmste aller Situation traf das JDC in
Nord-Transylvanien an, in den Gebieten von Máramarossziget
und Satu-Mare. Dort herrschte eine extreme Armut, und das
kleinste ökonomische und politische Problem konnte dort
Not hervorrufen, was dann auch geschah.
[Späte 1920er Jahre:
Osteuropa: Nicht integrierte Juden, Wirtschaftskrisen
und Nationalismus provozieren den Ausschluss der Juden]
Dies war nun die Situation, mit der die osteuropäischen
Juden konfrontiert waren: Die neu sich formierenden
Nationen, die damit beschäftigt waren, die schmerzliche
Umstrukturierung in moderne Wirtschaften zu vollziehen,
bestimmten, die Juden aus dem Wirtschaftsleben
auszuschliessen. Bis dahin waren Juden die traditionellen
Mittelständler zwischen Stadt und Land. Sie passten nun
nicht mehr ins wirtschaftliche Bild. Sie wurden vom
versprochenen Wirtschaftswachstum und vom politischen
Einfluss ausgeschlossen. Juden wurden zu sprachlichen,
religiösen und kulturellen Ausländern. Juden wurden
gehasst und verachtet. Der Jude war das erste Opfer jeder
wirtschaftlichen und sozialen Unruhe.