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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 1. Krisenzeit: 1929-1932

[1.10. Kahns Erwartungen von einem möglichen Hitler-Deutschland: Neue jüdische Flüchtlinge]

[14. Dez 1930: Kahn über den Hitler-Nazismus - jüdische Auswanderung aus Deutschland hat schon begonnen]

Bernhard Kahn war, wie wir gesehen haben, ein Mann von durchdringender Intelligenz. Deshalb überrascht es nicht im Geringsten, dass er den Aufstieg der Nazi-Bewegung mit mehr als einem normalen Scharfsinn beobachtete. In einer bemerkenswerden Rede im Hause von James N. Rosenberg am 14. Dezember 1930 analysierte er den nazistischen Wahlsieg von 1930, die die NSDAP zur zweitgrössten Partei im deutschen Reichstag machte. Dann besprach er die Hoffnung vieler Juden, dass die Hitler-Bewegung nicht stärker werden würde (S.54)

als die antisemitische Bewegung der 1890er Jahre in Deutschland. Er warnte vor solchen Vergleichen: "Der Antisemitismus im heutigen Deutschland ist gefährlicher als die früheren Ausbrücke des Judenhasses."

Diese neue Bewegung wurde von zwei Seiten gleichzeitig genährt, von der Wirtschaftskrise und von der politischen Unruhe vom Ersten Weltkrieg her. Nun sagte Kahn aber: "Es gibt keine Möglichkeit, den deutschen Juden das Wahlrecht zu entziehen, wenn die Hitleristen an der Regierung beteiligt werden sollten. Es kann sein, dass dann einige der jüdischen Flüchtlinge, oder die ausländischen Juden, zu leiden haben. Es käme zu einigen Vertreibungen von ausländischen Juden, von denen es in Deutschland 100.000 gibt", aber sogar diese würden von ihren eigenen Regierungen "zum Teil geschützt" werden, nicht, weil eine Judenliebe bestehen würde, sondern weil diese Staaten "noch ein Hühnchen mit Deutschland zu rupfen" hätten.

Wenn die Antisemiten an die Macht kämen, mustmasste Kahn, "dann kann die nicht zu Pogromen fürhen (wenn dies auch möglich ist)", sondern die Juden würden im politischen Leben und im Verwaltungsapparat aus ihren Positionen verdrängt. Eine Anzahl Juden wanderte bereits aus Deutschland aus, und die wirtschaftliche Zwangslage, die die Juden erwarten konnten, wenn der gegenwärtige Trend so weiterging, könnte ein Elend und den Wunsch nach Ausreise verursachen. Die grosse Gefahr war, dass die Nazis die Kontrolle über die Provinzregierungen gewinnen könnten, speziell in Preussen. Sogar heute, so sagte Kahn, "ist die Atmosphäre fast untragbar. Die Lage der deutschen Juden ist sehr kritisch", und das JDC sollte sich darauf einstellen, dass aus Deutschland bald Hilferufe kommen würden. Kahn sah eine klare Verbindung zwischen den Antisemiten in Deutschland und den antisemitischen Ausbrüchen in Osteuropa: "Die Lehre des Antisemitismus kommt von Deutschland her."

(original:
"The teaching of anti-Semitism goes out from Germany.")

[18. Nov 1931: Kahn erwartet von einem Nazi-Deutschland Diskriminierung - keine "mittelalterliche Verfolgung"]

Als die Nazis an Einfluss gewannen, wurde Kahn immer mehr beunruhigt. Im Verlaufe eines Vortrags an eine Rabbinergruppe ein Jahr nach dem Rosenberg-Treffen begann er, auf dieses Thema zurückzukommen.

(Endnote 32: Akte 39, 18. November 1931)

Dieses Mal drückte er die Besorgnis aus, dass die Gefahr in Deutschland beträchtlich grösser war, als was er noch ein Jahr zuvor erwartet hatte. Nichtsdestotrotz erwartete er eher eine wirtschaftliche Diskriminierung als eine "mittelalterliche Verfolgung".

Dieselbe Meinung ist in seinem Brief an Cyrus Adler und andere vom 2. Februar 1932 zu finden.

(Endnote 33: Akte 70)

Er nahm an, dass bei Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt (S.55)

die Nazis 180 bis 190 Sitze erobern könnten (in den Wahlen vom Juli 1932 bekamen sie dann 230). Sie könnten in einer Allianz mit rechtsgerichteten Gruppen an die Macht gelangen, z.B. mit der Nationalen Volkspartei von Alfred Hugenberg, oder sogar mit der Katholischen Zentrumspartei, aber diese konservativen Verbündeten würden keine Judenhetze zulassen. "Es wäre dann eine andere Sache, wenn bei einer Regierung unter Nazi-Beteiligung die Nazis die Macht durch einen Staatsstreich ergreifen würden und dann behalten würden. Somit wäre es natürlich entscheidend, wer zu dieser Zeit der Präsident wäre" - und dies war eine erstaunlich genaue Beschreibung von dem, was ein Jahr später geschehen sollte.

[Ein Jahr später begann die Diskriminierung mit dem Konzentrationslagersystem. Hitler eliminierte die anderen Parteien und dadurch ergriff er die absolute Macht. Die systematische Diskrimineirung der Juden durch die Nürnberger Gesetze kam 1935, und die systematischen Deportationen begannen 1940. Der systematische Massentod ereignete sich 1942-1945, als der schnelle Sieg gegen Russland ausblieb und Tunnelsysteme in die Berge gesprengt wurden und der Kampf der Roten Armee 4 Jahre dauerte].

[Kahn erwartet die Vertreibung der ausländischen Juden aus Deutschland - Kahn schlägt die Vorbereitung vor, jüdische Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen]

Es gab 100.000 ausländische und staatenlose Juden in Deutschland, sagte Kahn. 42.000 von ihnen waren polnische Juden, und 40.000 von ihnen waren österreichische Juden. Die Nazis würden das Problem zuerst gegen diese richten. Aber Kahn war nun nicht mehr länger so optimistisch wie vorher, als er gesagt hatte, dass die ausländischen Regierungen zugunsten ihrer jüdischen Bürger intervenieren würden. Er sagte voraus, dass Gesetze eingeführt würden, die nur scheinbar den Handel unterbinden sollten, aber eigentlich direkt gegen die Juden gerichtet sein würden. Es gab vielleicht keine Pogrome, so lange die Nazis nicht die Macht durch einen Umsturz ergriffen hatten. Während eine "mittelalterliche Verfolgung" nicht vorgesehen war, würden die Juden nichtsdestotrotz ein grosses Leid zu ertragen haben. Deshalb musste man von Deutschland Flüchtlinge erwarten. Der Punkt dieses Briefes an Cyrus Adler wawr der, dass nun stille Vorbereitungen getroffen werden sollten (im April 1932!), um für einen solchen Notfall vorbereitet zu sein.

Das Jahr 1932 begann in diesem Sinne, und diese extrem entmutigende Situation setzte sich durch das ganze Jahr fort. Das osteuropäische Judentum hungerte, war arbeitlsos, hoffnungslos. "Die Berichte über jüdische Insolvenzen und sogar Selbstmorde sind tragisch", schrieb Hyman.

(Endnote 34: Bericht von Bressler und Hyman über Europa, 1930, JDC-Bibliothek)

Das deutsche Judentum wurde mit einer schlagenden Welle des aufsteigenden Nazismus konfrontiert, und das amerikanische Judentum war durch die Depression eingeschränkt, die jeden Versuch einer Spendensammlung illusorisch erscheinen liess. Aber es musste doch etwas getan werden, um das europäische Judentum zu retten. "Mein grosser Bruder muss mir helfen, wenn seine Stärke für mich irgendeinen Sinn haben soll. Seine Rufe von weit weg helfen mir nicht viel."

(Endnote 35: Executive Committee, Kahn, 11. Nov 1931)

Dann, im Januar 1933, kam Hitler an die Macht. (S.56)

[Und die Industriellen in Deutschland schützten Hitler, und viele dachten, Hitler sei nur eine Übergangsregierung].







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