Kapitel 1. Krisenzeit: 1929-1932
[1.10. Kahns
Erwartungen von einem möglichen Hitler-Deutschland:
Neue jüdische Flüchtlinge]
[14. Dez 1930: Kahn über
den Hitler-Nazismus - jüdische Auswanderung aus
Deutschland hat schon begonnen]
Bernhard Kahn war, wie wir gesehen haben, ein Mann von
durchdringender Intelligenz. Deshalb überrascht es nicht
im Geringsten, dass er den Aufstieg der Nazi-Bewegung mit
mehr als einem normalen Scharfsinn beobachtete. In einer
bemerkenswerden Rede im Hause von James N. Rosenberg am
14. Dezember 1930 analysierte er den nazistischen Wahlsieg
von 1930, die die NSDAP zur zweitgrössten Partei im
deutschen Reichstag machte. Dann besprach er die Hoffnung
vieler Juden, dass die Hitler-Bewegung nicht stärker
werden würde (S.54)
als die antisemitische Bewegung der 1890er Jahre in
Deutschland. Er warnte vor solchen Vergleichen: "Der
Antisemitismus im heutigen Deutschland ist gefährlicher
als die früheren Ausbrücke des Judenhasses."
Diese neue Bewegung wurde von zwei Seiten gleichzeitig
genährt, von der Wirtschaftskrise und von der politischen
Unruhe vom Ersten Weltkrieg her. Nun sagte Kahn aber: "Es
gibt keine Möglichkeit, den deutschen Juden das Wahlrecht
zu entziehen, wenn die Hitleristen an der Regierung
beteiligt werden sollten. Es kann sein, dass dann einige
der jüdischen Flüchtlinge, oder die ausländischen Juden,
zu leiden haben. Es käme zu einigen Vertreibungen von
ausländischen Juden, von denen es in Deutschland 100.000
gibt", aber sogar diese würden von ihren eigenen
Regierungen "zum Teil geschützt" werden, nicht, weil eine
Judenliebe bestehen würde, sondern weil diese Staaten
"noch ein Hühnchen mit Deutschland zu rupfen" hätten.
Wenn die Antisemiten an die Macht kämen, mustmasste Kahn,
"dann kann die nicht zu Pogromen fürhen (wenn dies auch
möglich ist)", sondern die Juden würden im politischen
Leben und im Verwaltungsapparat aus ihren Positionen
verdrängt. Eine Anzahl Juden wanderte bereits aus
Deutschland aus, und die wirtschaftliche Zwangslage, die
die Juden erwarten konnten, wenn der gegenwärtige Trend so
weiterging, könnte ein Elend und den Wunsch nach Ausreise
verursachen. Die grosse Gefahr war, dass die Nazis die
Kontrolle über die Provinzregierungen gewinnen könnten,
speziell in Preussen. Sogar heute, so sagte Kahn, "ist die
Atmosphäre fast untragbar. Die Lage der deutschen Juden
ist sehr kritisch", und das JDC sollte sich darauf
einstellen, dass aus Deutschland bald Hilferufe kommen
würden. Kahn sah eine klare Verbindung zwischen den
Antisemiten in Deutschland und den antisemitischen
Ausbrüchen in Osteuropa: "Die Lehre des Antisemitismus
kommt von Deutschland her."
(original:
"The teaching of anti-Semitism goes out from Germany.")
[18. Nov 1931: Kahn
erwartet von einem Nazi-Deutschland Diskriminierung -
keine "mittelalterliche Verfolgung"]
Als die Nazis an Einfluss gewannen, wurde Kahn immer mehr
beunruhigt. Im Verlaufe eines Vortrags an eine
Rabbinergruppe ein Jahr nach dem Rosenberg-Treffen begann
er, auf dieses Thema zurückzukommen.
(Endnote 32: Akte 39, 18. November 1931)
Dieses Mal drückte er die Besorgnis aus, dass die Gefahr
in Deutschland beträchtlich grösser war, als was er noch
ein Jahr zuvor erwartet hatte. Nichtsdestotrotz erwartete
er eher eine wirtschaftliche Diskriminierung als eine
"mittelalterliche Verfolgung".
Dieselbe Meinung ist in seinem Brief an Cyrus Adler und
andere vom 2. Februar 1932 zu finden.
(Endnote 33: Akte 70)
Er nahm an, dass bei Wahlen zum jetzigen Zeitpunkt (S.55)
die Nazis 180 bis 190 Sitze erobern könnten (in den Wahlen
vom Juli 1932 bekamen sie dann 230). Sie könnten in einer
Allianz mit rechtsgerichteten Gruppen an die Macht
gelangen, z.B. mit der Nationalen Volkspartei von Alfred
Hugenberg, oder sogar mit der Katholischen Zentrumspartei,
aber diese konservativen Verbündeten würden keine
Judenhetze zulassen. "Es wäre dann eine andere Sache, wenn
bei einer Regierung unter Nazi-Beteiligung die Nazis die
Macht durch einen Staatsstreich ergreifen würden und dann
behalten würden. Somit wäre es natürlich entscheidend, wer
zu dieser Zeit der Präsident wäre" - und dies war eine
erstaunlich genaue Beschreibung von dem, was ein Jahr
später geschehen sollte.
[Ein Jahr später begann die Diskriminierung mit dem
Konzentrationslagersystem. Hitler eliminierte die anderen
Parteien und dadurch ergriff er die absolute Macht. Die
systematische Diskrimineirung der Juden durch die
Nürnberger Gesetze kam 1935, und die systematischen
Deportationen begannen 1940. Der systematische Massentod
ereignete sich 1942-1945, als der schnelle Sieg gegen
Russland ausblieb und Tunnelsysteme in die Berge gesprengt
wurden und der Kampf der Roten Armee 4 Jahre dauerte].
[Kahn erwartet die
Vertreibung der ausländischen Juden aus Deutschland -
Kahn schlägt die Vorbereitung vor, jüdische Flüchtlinge
aus Deutschland aufzunehmen]
Es gab 100.000 ausländische und staatenlose Juden in
Deutschland, sagte Kahn. 42.000 von ihnen waren polnische
Juden, und 40.000 von ihnen waren österreichische Juden.
Die Nazis würden das Problem zuerst gegen diese richten.
Aber Kahn war nun nicht mehr länger so optimistisch wie
vorher, als er gesagt hatte, dass die ausländischen
Regierungen zugunsten ihrer jüdischen Bürger intervenieren
würden. Er sagte voraus, dass Gesetze eingeführt würden,
die nur scheinbar den Handel unterbinden sollten, aber
eigentlich direkt gegen die Juden gerichtet sein würden.
Es gab vielleicht keine Pogrome, so lange die Nazis nicht
die Macht durch einen Umsturz ergriffen hatten. Während
eine "mittelalterliche Verfolgung" nicht vorgesehen war,
würden die Juden nichtsdestotrotz ein grosses Leid zu
ertragen haben. Deshalb musste man von Deutschland
Flüchtlinge erwarten. Der Punkt dieses Briefes an Cyrus
Adler wawr der, dass nun stille Vorbereitungen getroffen
werden sollten (im April 1932!), um für einen solchen
Notfall vorbereitet zu sein.
Das Jahr 1932 begann in diesem Sinne, und diese extrem
entmutigende Situation setzte sich durch das ganze Jahr
fort. Das osteuropäische Judentum hungerte, war
arbeitlsos, hoffnungslos. "Die Berichte über jüdische
Insolvenzen und sogar Selbstmorde sind tragisch", schrieb
Hyman.
(Endnote 34: Bericht von Bressler und Hyman über Europa,
1930, JDC-Bibliothek)
Das deutsche Judentum wurde mit einer schlagenden Welle
des aufsteigenden Nazismus konfrontiert, und das
amerikanische Judentum war durch die Depression
eingeschränkt, die jeden Versuch einer Spendensammlung
illusorisch erscheinen liess. Aber es musste doch etwas
getan werden, um das europäische Judentum zu retten. "Mein
grosser Bruder muss mir helfen, wenn seine Stärke für mich
irgendeinen Sinn haben soll. Seine Rufe von weit weg
helfen mir nicht viel."
(Endnote 35: Executive Committee, Kahn, 11. Nov 1931)
Dann, im Januar 1933, kam Hitler an die Macht. (S.56)
[Und die Industriellen in Deutschland schützten Hitler,
und viele dachten, Hitler sei nur eine
Übergangsregierung].
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