Wie wir gesehen haben, traf
die Krise in Deutschland den JDC nicht ganz unvorbereitet.
Die Warnungen von Dr. Kahn und der grollende Donner der
aufsteigenden Naziwelle in Deutschland hatte schon vor dem
Aufstieg Hitlers die Aufmerksamkeit der Organisation auf
sich gezogen. Wenn die Nazis einmal an der Macht wären, dann
wäre es nur natürlich, dass das Verteilungskomitee JDC dem
deutschen Judentum helfen würde. Aber im inneren Kreis der
JDC-Führung gab es durchaus verschiedene Meinungen - dies
trotz der Tatsache, dass die Mehrheit der Laien-Führer
Nachkommen von deutschen-jüdischen Einwanderern in die USA
waren, oder dass sie in Deutschland geboren waren.
[1933: Diskussionen im JDC
über die Aktionen in Nazi-Deutschland]
Während der ersten Monaten im Jahr 1933 fanden in New York
Diskussionen statt, ob das JDC überhaupt auf der deutschen
Bühne auftreten sollte. Arthur Hays Sulzberger von der New
York Times dachte, dass das JDC
diesbezüglich einen
fundamentalen und beklagenswerten Fehler machte. Es
scheint mir unmöglich, Pläne ins Auge zu fassen, um
600.000 Personen von aussen her in Deutschland zu
unterstützen. Da diese Verpflichtung nicht erfüllt werden
kann, sollte sie erst gar nicht in Betracht gezogen
werden. Wenn man das tun würde, dann würde meiner Meinung
nach nur die deutsche Regierung von ihrer Verantwortung
entbunden, dass sie ihren Bürgern die Gleichheit
garantieren muss, damit diese ihren Lebensunterhalt
verdienen.
(Endnote 1: Arthur Sulzberger an Max J. Kohler, 5/29/33
[29. Mai 1933], CON 21
An einer Sitzung der Direktion im Juli argumentierte James
N. Rosenberg, dass es keinen Anlass gab, den Juden in
(S.105)
Deutschland zu helfen, weil das JDC einfach nicht die Mittel
dazu habe. Das Ziel der Organisation sollte sein, die
deutsche Regierung zu einem Aufbauprogramm zu bewegen.
Diesbezüglich könnte das JDC eine gewisse Hilfe sein.
(Endnote 2: James N. Rosenberg an der Direktionssitzung,
7/11/33 [11. Juli 1933])
Die Mehrheit der Organisationsführer aber übernahm die
Haltung von Dr. Bernhard Kahn, dass "das liberale
Wirtschaftsprinzip in Deutschland sein Ende gefunden habe",
und dass das Verteilungskomitee JDC nun den deutschen Juden
helfen müsse, in jene wirtschaftlichen Bereiche zu gelangen,
wo ihnen der Zugang noch erlaubt sei. Er war ganz für
konstruktive Anstrengungen in Deutschland: "Sogar wenn ein
kleiner Anwalt nur ein Stenographiebüro eröffnen kann, so
ist das sicherlich besser, als wenn diese Leute das Land
verlassen und komplett zusammenbrechen und ruiniert sind."
Aber Kahn war sehr gegen eine Beschränkung der JDC-Hilfe auf
Wiederaufbau. Er sah die Notwendigkeit voraus, dass man für
neue Schulen für jüdische Kinder sorgen müsste. Gleichzeitig
dachte er, dass Palästina wenigstens eine teilweise Frage
für jene war, die nicht länger in Deutschland bleiben
konnten: "Die jüdische Jugend und die jungen Erwachsenen
müssen ein permanentes Land haben, wo sie hingehen können,
unter den Umständen kann das nur Palästina sein. Natürlich
sind für die Vorbereitungen nach Palästina ausserordentlich
hohe Summen nötig. Für diesen Zweck müssen spezielle Mittel
zur Verfügung gestellt werden."
(Endnote 3: Dr. Bernhard Kahn an einer Sitzung des Executive
Committee, 6/27/33 [27. Juni 1933])
Das erste unmittelbare Problem in Sachen Deutschland war
politischer Natur. Die Zionisten und andere verlangten
Proteste in Form jüdischer Massenversammlungen. Kahns legte
seine Meinung nach der Sitzung mit Morris D. Waldman dar,
der Sekretär des American Jewish Committee. Er dachte, dass
jüdische Massenaufläufe nutzlos wären und sogar nur Schaden
anrichten könnten. Er sah aber voraus, dass solche grosse
Versammlungen nötig werden könnten, speziell mit Beteiligung
prominenter Nichtjuden.
(Endnote 4: Telegramm von Kahn an New York, 3/19/33 [19.
März 1933], 14-47)
Im darauf folgenden Monat legte er sich auf diese Meinung
fest. Am 21. März 1933 kabelte Paul Baerwald an das
Aussenministerium in Washington und bat um amerikanischen
Schutz für das JDC-Büro in Berlin. Am selben Tag
publizierten das American Jewish Committee und die
amerikanische Organisation B'nai B'rith einen Protest gegen
Hitler, der in der
New
York Times publiziert wurde. Dies wurde als eine
moderate Form von (S.106)
öffentlicher Intervention betrachtet; Freunde des JDC in
Deutschland (z.B. Edward Baerwald, Bruder von Paul Baerwald)
wurden aufgefordert, mehr militanten Protest zu zeigen.
(Endnote 5: Eduard Baerwald an New York, 3/19/33 [19. März
1933], ebenda [14-47])
[1933: Kahn wird gewarnt,
Berlin zu verlassen - Kahn kehrt nach New York zurück]
Es war Kahn bald klar, dass seine Position als europäischer
Direktor des JDC unhaltbar war, so lange er in Berlin
bleiben würde. Während der letzten Tage im März bereitete
Kahn seine Abreise vor. Am 1. April telegraphierte er von
Paris aus, dass die Verlegung seiner Büros unausweichlich
geworden sei. Er war persönlich gewarnt worden,
halboffiziell, dass es wegen seiner Beziehungen zum
weitgehend verhassten amerikanischen Judentum wünschenswert
sei, wenn er Deutschland verlassen würde. Er fügte hinzu:
"In Zukunft kann ich die Grenze nicht ohne ein spezielles
Visum überschreiten, und ich würde das wahrscheinlich auch
nicht bekommen; aber ich bin vorbereitet, Ende der Woche
zurückzugehen."
(original:
"Future passing of German border not possible without
special visa which I very likely would not get; nevertheless
prepared return by end week.")
Er war nie mehr auf deutscher Erde.
(Endnote 6: Kahn an New York, 4/1/33 [1. April 1933], ebenda
[14-47])
[1933: Diskussionen über
Proteste und Interventionen des Roten Kreuzes]
Am nächsten Tag, den 2. April, beantragte Kahn
Protestkundgebungen ohne religiöse Einschränkungen, um den
humanitären Standpunkt zu betonen bei dem, was in
Deutschland geschah. Aber solche Proteste wären nur am
Platze gewesen, wenn Verhandlungen zwischen einflussreichen
Juden in London und den Nazis fruchtlos gewesen wären.
Joseph C. Hyman ging nach Washington, um sich mit dieser
Botschaft am 4. April mit William Phillips und Pierrepont
Moffat beim Aussenministerium zu treffen. Am 6. April wurde
im Haus von Paul Baerwald eine Sitzung abgehalten, wo die
Führung der deutsch-jüdischen Aristokratie in den USA
zusammenkam. Die Teilnehmer waren unter anderem Henry
Morgenthau, Jr., Ludwig Fogelstein, Irving Lehman, Arthur
Hays Sulzberger, Judge Rosenman, Solomon Lowenstein, James
Marshall, Frederick M. Warburg, Judge Proskauer, Jonah B.
Wise und andere. Vorschläge waren, dass die gesamte
Situation dem Roten Kreuz übergeben werden sollte, aber
gleichzeitig kam das Argument, dass das IRC ohne lokale
Gesellschaften des Roten Kreuzes gar nicht handlungsfähig
war. Das hiess also, dass das Rote Kreuz mehr oder weniger
gegen den Willen der deutschen Regierung handeln müsste.
Proskauer, Lehman und andere waren sehr gegen einen
"separatistischen jüdischen Protest", wie sie es nannten,
und wollten, dass jeglicher Protest (S.107)
auf einer rein humanitären und nicht-religiösen Basis
stattfand.
(Endnote 7: Treffen im Haus von Paul Baerwald, 4/6/33 [6.
April 1933], ebenda [14-47])
[Gelder an den Hilfsverein
CV (Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens]
Kahn wurde telegraphisch angefragt, ob Gelder nach
Deutschland gesendet werden könnten. Seine erste Antwort am
12. April war, dass Gelder tatsächlich verschickt werden
könnten, und dass die besten Leute, die mit solchen Geldern
umgehen könnten, die Leute des Hilfsvereins oder CV
wären (Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens), die politische Organisation des liberalen
Judentums in Deutschland.
[Der Joint hat kein Recht
zu demonstrieren]
Als eine nicht-politische Organisation konnte der JDC bei
keiner Demonstration gegen die deutsche Verfolgung der Juden
mitmachen. Wenn solche Proteste stattfanden, so wurden sie
dem American Jewish Committee, dessen Führung, wie wir
gesehen haben, bis zu einem gewissen Grad mit der des JDC
identisch war.
[April 1933: Britische
Juden verlangen von Felix M. Warburg Druck auf den
britischen Premier MacDonald beim "USA"-Besuch]
Einflussreiche britische Juden versuchten, Felix M. Warburg
zu überzeugen, bei der amerikanischen Regierung Druck
auszuüben, um die britische Regierung dahingehend zu
beeinflussen, dass sie zugunsten des deutschen Judentums
interveniere. Der britische Premierminister, Ramsay
MacDonald, war in der zweiten Aprilhälfte in den USA, aber
Warburg setzte keine grossen Hoffnungen auf einen direkten
Kontakt zwischen jüdischen Führern und dem britischen
Premier.
(Endnote 8: F.M. Warburg an Lord Reading, 4/22/33 [22. April
1933], ebenda [14-47])
[Kahn: Das JDC muss jede
jüdische Position in Deutschland verteidigen]
Das unmittelbare Problem, mit dem das Verteilungskomitee JDC
konfrontiert wurde, war, wie man mit der neuen Situation
umgehen sollte, die in Deutschland entstanden war. Die erste
Reaktion wurde von Dr. Kahn zusammengefasst. Er schrieb im
Memorandum, von dem wir schon zitiert haben, dass er der
Meinung war, dass das JDC das deutsche Judentum nicht
komplett verloren geben sollte. Das JDC sollte bis zum
Letzten jede jüdische Position in Deutschland verteidigen.
(Endnote 9: Hilfsverein der deutschen Juden, Dr. Kahns
Aktenmaterial, 1931-1940, Memo vom 6/27/33 [27. Juni 1933])
[Hyman gibt bekannt, dass
die junge deutsch-jüdische Generation zur Auswanderung
vorbereitet sein soll]
Dies bedeutete nicht, dass das JDC gegen eine grossangelegte
Auswanderung deutscher Juden war. Der panische Exodus, der
der Machtübernahme der Nazis folgte, hätte eine solche
Position sowieso ad absurdum geführt. Die Politik des JDC
wurde von Hyman klar artikuliert, wenn er sagte, dass in
Übereinstimmung mit den deutsch-jüdischen Körperschaften "es
hier für die junge Generation keine Hoffnung gibt; dass es
deshalb notwendig ist, dieser Gruppe die Fähigkeit zu geben,
in den Berufen der Landwirtschaft, Handwerk und ähnlichem
produktive Tätigkeiten zu entwickeln", um dann ausserhalb
von Deutschland zu siedeln.
(Endnote 10: J.C. Hyman an Judge Irving Lehman, 7/14/33 [14.
Juli 1933], R19)
[Kahn weissagt:
Auswanderung ist nötig, weil die Bedingungen sich
verschlechtern werden]
Kahn fügte hinzu, dass Auswanderung ein nötiger Teil jeder
zukünftigen Handlung in Deutschland sein werde. Seine eigene
Meinung war, dass die Tragödie von (S.108)
solchen Dimensionen war, dass man Angst hatte, darüber
nachzudenken. Er war überzeugt, dass die Bedingungen sich
nicht verbessern würden. "Im Gegenteil, sie werden
schlechter werden."
(Endnote 11: Kahn, 4/28/33 [28. April 1933], 14-47)
[Personen des JDC, die in
Nazi-Deutschland Spenden sammeln]
Der unmittelbar nächste Schritt des JDC war, ihren
Chef-Spendensammler, Rabbi Jonah B. Wise, nach Deutschland
zu schicken. Er sollte versuchen, eine deutsche Organisation
im Zusammenhang mit dem JDC aufzubauen, die fähig war,
Gelder aus Amerika im Einklang mit der Politik des JDC in
Deutschland zu verteilen. Ein Führer im Zuge dieser
Anstrengungen war Max M. Warburg, Felix M. Warburgs Bruder,
der Kopf des Familien-Bankhauses in Hamburg. Ebenso
miteinbezogen waren Karl Melchior, ein hoher deutscher
Vertreter und ein Partner von Warburg in der Hamburger
Firma, Dr. Cora Berliner, Ludwig Tietz, ein Physiker und
eine gut bekannte öffentliche Persönlichkeit, und andere.