Kapitel 3. Deutschland: 1933-1938
[3.2. Neue jüdische Organisationen in
NS-Deutschland ab April 1933]
[13. April 1933: Gründung
des Zentral-Ausschuss für Hilfe und Aufbau (ZA) - Gründung
der Reichsvertretung (RV) Jüdischer Landesverbände unter
Judge Wolff und Rabbi Leo Baeck]
Vor allem durch die Arbeit von Max Warburg und Ludwig Tietz
war es am 13. April 1933 so weit, dass der so genannte
Zentral-Ausschuss für Hilfe
und Aufbau [ZA] gegründet werden konnte. In diesem
Verein spielte Jonah B. Wise eine bedeutende Rolle. Der ZA
war eine Dachorganisation mit Organisationen für Fürsorge,
Erziehung, Auswanderung und Berufsausbildung, die schon vor
1933 existiert hatten. Offiziell wurde der ZA durch die
Landesverbände gegründet, die ihrerseits die Reichsvertretung [RV] Jüdischer
Landesverbände gegründet hatten, angeführt von
Judge Wolff und Rabbi Leo Baeck. Diese erste
Reichsvertretung (RV) existierte nicht sehr lange. Und
ausserdem wurde das deutsche Judentum mehr durch die
Hauptspaltung in liberale und zionistische Flügel
beeinflusst, als durch die Organisation der jüdischen
Gemeinden.
[Die Berliner jüdische
Gemeinde unter Heinrich Stahl]
In Berlin war der Führer der Gemeinde eine sehr kräftige
Einzelperson mit Namen Heinrich Stahl. Stahl wollte die
Reichsvertretung (RV) unter seinem eigenen Einfluss haben.
Dies stellte sich aber als unmöglich heraus, weil die
politische Hauptorganisation eine solche Lösung bekämpfte.
Tietz und Warburg, die den Zentral-Ausschuss (ZA) gegründet
hatten, waren selber apolitisch. Da beide Flügel, die
Liberalen wie die Zionisten, ihnen sympathisch erschienen,
so sahen sie sich als die natürlichen Mediatoren zwischen
den beiden. Tietz ging (S.109)
nach London, um Dr. Weizman zu treffen, und Warburgs
Verbindungen zum JDC über seinen Bruder hatten geholfen,
eine Verbindung mit der amerikanisch-jüdischen Organisation
zu schmieden. Der ZA wurde ein Erfolg, mit Karl Melchor und
Tietz an der Spitze.
Im Gegensatz dazu waren die ersten Versuche, eine
Reichsvertretung einzurichten, bald zum Scheitern
verurteilt.
[Sommer 1933-17. Sep 1933:
Endgültige Gründung der jüdischen alldeutschen Vereinigung
(Reichsvertretung (RV) in Essen]
Während des Sommers 1933 wurden neue Versuche unternommen,
eine allumfassende, politische Organisation des deutschen
Judentums zu schaffen. Dieser Versuche hatten ihr Zentrum in
der Gemeinde von Essen in Westdeutschland. Die Initiatoren
waren örtliche Führer wie Dr. Georg Hirschland und Rabbi Dr.
Hugo Hahn. Sie organisierten eine Sitzung mit den führenden
Nicht-Zionisten Deutschlands und überzeugten sie, eine
landesweite Organisation zu schaffen, die Reichsvertretung heissen
sollte. Es war Max Warburg, der Dr. Baeck überzeugte, die
Führung in der vorgeschlagenen Organisation zu übernehmen.
Er war es auch, der Direktor Stahl überzeugte, von seinen
Versuchen abzulassen, eine getrennte von der Berliner
Gemeinde geführte Organisation zu gründen, und der Stahl
überzeugte, beim RV eine führende Position einzunehmen. Am
17. September 1933 schliesslich kam die neue
Reichsvertretung zustande, mit Dr. Baeck als Präsident, Dr.
Hirsch als Vizevorsitzenden, und mit liberalen und
zionistischen Repräsentanten, die sich an der Arbeit des
Exekutivkomitees (Präsidialausschuss) beteiligten.
Eine unmittelbare Verbindung wurde zwischen der RV und dem
ZA etabliert. Baeck war bei beiden zuoberst, bei der
Reichsvertretung der Präsident, und beim Zentral-Ausschuss
der Vorsitzende. Der intelligente und beliebte Dr. Hirsch,
dessen Erfahrung als hoher Regierungsvertreter im südlichen
Bundesland Württemberg half, die schwierige Arbeit des ZA zu
meistern, war administrativer Vorsitzender der RV. Andere
Leute mit zentralen Positionen in der RV hatten auch
parallele Positionen im ZA. Auf diese Weise konnte die
Reichsvertretung den jüdischen Gemeinden gegenüber als
Verteiler ausländischer Gelder auftreten und als
Organisation, an die man sich als Einzelperson und als
Gemeinde in praktischen Belangen wenden.
(Endnote 12: Siehe
-- K.Y. Ball-Kaduri: The National Representation of Jews in
Germany; In: Yad Vashem Studies; Jerusalem 1958, 2:159 ff.;
-- Max Grunewald: The Beginning of the Reichsvertretung; In:
Leo Baeck Yearbook; London 1956, 1:57 ff.
-- siehe auch Leo Baecks Erinnerungen im selben Band).
[Dr. Werner Senator kehrt
von Palästina nach Nazi-Deutschland zurück, um an der
Arbeit des ZA teilzunehmen - Auswanderung der jüdischen
Jugend]
Eine der zentralen Figuren des deutschen Judentums war Dr.
Werner Senator, ein Vertreter der nicht-zionistischen Gruppe
der Jewish Agency, der nach Palästina ausgewandert war. Er
kehrte nach Deutschland zurück, um an der Arbeit des
Zentral-Ausschusses mitzuwirken. In einem Memorandum, das er
(S.110)
dem JDC im August vorlegte, verlangte Senator, dass das
deutsche Judentum versuchen würde, einen Dialog mit der
Nazi-Führung aufzubauen. Dies sollte in eine Art Konkordat
führen, wie die Abkommen zwischen der römischen Kurie und
den europäischen Staaten, eine Idee, die im deutschen
Judentum ohne Zweifel neu war, und die vor der
Machtübernahme Hitlers fast verwirklicht worden wäre. Ein
solches Konkordat sollte für ein Auswanderungsrecht der
Juden aus Deutschland sorgen, und auch für eine Bleiberecht.
Ein solcher Dialog, so dachte Senator, sei immer noch
möglich, auch wenn die Resultate für die Juden schmerzhaft
sein würden.
Generell aber stimmte Senator der Politik zu, die mit den
ausländischen Organisationen in Bezug auf das
deutsch-jüdische Problem abgestimmt wurde. Er betonte die
zentrale Position von Palästina, die Begründung einer neuen
jüdischen Gesellschaft, wo die durch und durch konstruktiven
Kräfte der deutsch-jüdischen Jugend ihren Platz fänden,
betonte aber auch die Notwendigkeit, Häfen in anderen
Ländern für solche Jugendliche zu suchen. Zur selben Zeit
verlangte er die Verteidigung der deutsch-jüdischen
Positionen in der Wirtschaft und im sozialen Leben im neu zu
gründenden Staat bis aufs äusserste. Die Verhandlungen, die
er mit den deutschen Behörden vorschlug, sollten auf einer
ehrenhaften Basis stattfinden. Die Auswirkung war, dass die
Juden sich als eine nationale Gruppe erkennen sollten, und
dass man nur auf dieser Basis mit den Nazis verhandeln
sollte.
Während die Vorschläge von Senator nur teilweise akzeptiert
wurden, so war seine Denkweise ohne Zweifel einmalig, für
die deutsche wie für die jüdische Seite und ihre
Unterstützer aus dem Ausland.
(Endnote 13: Werner Senator, 8/15/33 [15. August 1933]:
Bemerkungen zu einem wirtschaftlichen Verhandlungsprogramm
der deutschen Juden, 14-47)
[Der Joint muss
akzeptieren, dass die jüdische Jugend auswandern soll]
Das JDC war geneigt, ein solches Vorhaben zu unterstützen.
Rosen, der Deutschland im Juni 1933 besucht hatte, schrieb
an Kahn, dass die Ziellosigkeit der Bemühungen des deutschen
Judentums ihn erschreckt habe. Er sagte, dass Druck von
aussen einige Resultate hervorbringen werde, aber es gab
keine Möglichkeit einer wirklichen Verbesserung "ausser wenn
in einem bestimmten Mass ein Übereinkommen mit der Regierung
des Landes zustandekommt."
(Endnote 14: Dr. Joseph A. Rosen an Kahn, Juni 1933,
Executive Committee meetings)
[Die Aufgabe für den Joint:
Die jungen Juden für die Auswanderung vorbereiten -
Schulung diskriminierter, jüdischer Kinder - Unterstützung
kultureller und religiöser Institutionen]
In dieser Atmosphäre der Hoffnung und Illusion begann das
Verteilungskomitee JDC seine grosse Rettungsarbeit für das
deutsche Judentum. Das Ziel nach den ersten Monaten des
Durcheinanders schien ziemlich klar: Das JDC musste bei der
Auswanderung helfen, und es musste für Ausbildungsstätten
für die deutsch-jüdischen Jugendlichen sorgen, die
Deutschland verlassen sollten, und auch für jene, die im
Land bleiben sollten und sich an die neuen antisemitischen
Gesetze anpassen mussten (S.111)
die die Nazis gerade in Kraft setzten. Neben all dem
zeichnete sich das Problem ab, jüdische Kinder zu
unterrichten, wenn sie aus der allgemeinen Schule
ausgeschlossen worden waren. Es war auch absolut notwendig,
kulturelle und religiöse Institutionen zu unterstützen, dies
in der Hoffnung, dass diese die sinkende Moral des deutschen
Judentums stärken könnten.