Kapitel 3. Deutschland: 1933-1938
[3.3. Diskriminierung von Juden im Beruf und an
Schulen im Dritten Reich ab 1933]
[1. April 1933:
Boykotttag gegen jüdische Geschäfte]
In der Zwischenzeit nahm die ökonomische Katastrophe der
Juden in Deutschland seinen Lauf. Am 1. April 1933, gerade
zwei Monate nach Hitlers Machtübernahme, veranstalteten
die Nazis einen Boykott aller jüdischen Geschäfte und
jüdischen Fachkräfte. Eine offizielle Verlängerung des
Boykotts über einen Tag hinaus wurde durch eine lautstarke
Protestbewegung im Ausland verhindern.
[Alles in allem ist der Boykott ein Flop (siehe:
Hans-Jürgen Eitner: Hitlers
Deutsche. Das Ende eines Tabus. Casimir Katz Verlag,
Gemsbach 1991, S.378). Der Boykott sollte jüdische
Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte treffen (S.260).
Der Appell zum Boykott ist von Goebbels und Streicher
mit Hitlers Zustimmung organisiert und von der SA
durchgeführt. Der Boykotttag wird aber zum Flop. Später
starten viele Deutsche Sympathiekäufe und bekämpfen die
NS-Methoden (S.378). Die grosse Mehrheit der deutschen
Bevölkerung verweigert die Verfolgung wie die Methoden
gegen Juden (S.379).
In: Eitner: Hitlers Deutsche 1991].
[Die Arbeitsverbote und andere Einschränkungen, die von
der deutschen Bevölkerung kaum bekämpft werden, sind viel
effektiver, denn wenn die Deutschen den Juden helfen
würden, dann würden die Deutschen im Gefängnis landen]:
[4. April 1933:
Arbeitsverbot für jüdische Anwälte]
Gleichzeitig ging die Ausschaltung der Juden aus der
deutschen Wirtschaft in schnellen Schritten voran. Am 4.
April wurde ein Beschluss publiziert, der praktisch allen
jüdischen Anwälten in Preussen die Arbeitsrecht nahm.
[7. April 1933:
Arbeitsverbot für Juden bis zu 1/4-Juden als Beamte]
Am 7. April wurde ein Gesetz in Kraft gesetzt ("Gesetz zur
Wiederherstellung des Beamtentums"), mit dem alle Beamten
entlassen werden konnten, bei denen ein oder mehr
Grosselternteile jüdisch waren. Ausnahmen gab es nur
wenige.
[22. April 1933: Jüdische
Ärzte werden von den Krankenkassen ausgeschlossen]
Am 22. April wurden jüdische Ärzte von den Listen der
Krankenkassen ausgeschlossen. Somit war ein Grossteil des
Einkommens nicht mehr gedeckt.
[2. Juni 1933: Jüdische
Zahnärzte werden von den Krankenkassen ausgeschlossen]
Ein ähnliches Gesetz wurde für die Zahnärzte am 2. Juni
eingeführt.
[29. Sep und 4. Okt 1933:
Künstler und Journalisten werden in Nazi-Organisationen
gezwungen - Juden sind ausgeschlossen]
Nach dem 29. September mussten Autoren, Künstler und
Musiker (und nach dem 4. Oktober auch Journalisten)
Nazi-Organisationen angehören, wo natürlich Juden
ausgeschlossen waren.
[30. Juni 1933:
Verbannung der Juden von Regierungs- und
Universitätsfunktionen]
Am 30. Juni wurden Offizielle und Professoren der
"jüdischen Rasse" im Grossen und Ganzen von der Ausübung
ihrer Funktionen in der Regierung und an den Universitäten
ausgeschlossen.
[Ende Juni 1933: Kahns
Einschätzung: 33.700 Juden haben ihre Arbeit verloren]
Bis Ende Juni [1933], so schätzte Kahn, dass 20 % oder
ungefähr 33.700 der Juden in guten Stellungen ihre Arbeit
verloren hatten.
(Endnote 15: Siehe Endnote 9 oben [Hilfsverein der
deutschen Juden, Dr. Kahns Akten, 1931-1940, Memo vom
6/27/33 [27. Juni 1933])
[Sommer 1933: Die Gesetze
gegen Juden zeigen Wirkung]
Das schlimmste dagegen war nicht die gesetzliche
Situation, sondern die permanente Unsicherheit, die nun im
deutsch-jüdischen Leben eingetreten war, und dies sollte
bis zur endgültigen Zerstörung auch so bleiben. Die
Nazi-Offiziellen verneinten gewöhnlich, dass ab dem 1.
April 1933 noch irgendein Boykott gegen Juden existiere,
aber in der Praxis wurde der Boykott nicht nur nicht
gestoppt - sondern mit der Zeit wurde er immer weiter
ausgebaut [wegen der Berufsverbote und wegen des Verbots
an die deutsche Bevölkerung, den Juden zu helfen]. Das
deutsche Judentum, mit seinen eigenen
beschäftigungsmässigen Schichtung, war gegen diese
wirtschaftliche Kriegsführung speziell verletzlich. Über
60 % der gut verdienenden (S.112)
Juden waren im Handel tätig.
(Endnote 16: Aus 29 - ZA, statistischer Teil, Bericht
1933. Eine Gesamtzahl von 61,33 % der deutschen Juden
waren im Handel beschäftigt, und 24,4 % in der Industrie
und im Handwerk. Weitere 5,6 % waren Fachleute. Von den
160.000 Leuten, die im Handel tätig waren, waren mehr als
die Hälfte, 89.368, Ladenbesitzer, 52.869 waren
Angestellte, und nur 2913 waren Arbeiter; 14.956 waren
Familienmitglieder der Besitzer).
Zu Beginn machten die Nazis, so sah es wenigstens aus, bei
ihren anti-jüdischen Massnahmen einige Ausnahmen. Diese
Praxis ergab sich anfangs wegen der Hochachtung vor dem
Druck von Präsident Hindenburg. Sie erklärten, dass 1 %
der Personen in offiziellen Positionen Juden bleiben
dürften; Beamte von vor 1914 und Leute, die im Ersten
Weltkrieg an der Front gekämpft hatten, durften auch
bleiben. Aber in der Praxis waren diese Ausnahmen eher
unbedeutend. Unter den Leuten, die als Juden angesehen
wurden, schlossen die Nazis Personen mit einem jüdischen
Grossvater mit ein. Es konnten auch nur diejenigen
bleiben, die politisch loyal zum Regime standen.
[April-Okt 1933: Zahlen
der entlassenen Juden]
Von den 6000 Juden im öffentlichen Dienst in Deutschland
verloren während der ersten Monate des Nazi-Regimes
mindestens 5000 ihre Arbeitsstelle. Von 2800 jüdischen
Anwälten verloren im April 1933 mindestens 1500 ihre
Arbeitsstelle. Von 7000 jüdischen Ärzten mussten in diesen
Frühlingsmonaten 4000 bis 5000 ihren Lebensunterhalt
aufgeben; ein ähnliches Schicksal betraf die Zahnärzte,
die Apotheker und die Drogisten, die städtischen
Angestellten, und die Angestellten in der öffentlichen
Wohlfahrt, die zusammen noch einmal 2500 gut verdienende
Angestellte ausmachten. Die Künstler, Musiker,
Journalisten und andere machten zusammen ungefähr
13-15.000 Juden aus, die nun arbeitslos waren. Obwohl ihre
Anzahl nicht sehr bedeutend war, so wurden nach dem
Antritt der Nazi-Herrschaft über Deutschland auch jüdische
Arbeiter von ihrer Arbeitsstelle entbunden.
[Diskriminierung von
Juden von der Arbeitsfront mit Versicherung,
Krankenleistungen und anderen lebenswichtigen
Einrichtungen]
Es wurde ein Gesetz verabschiedet, das Juden die
Mitgliedschaft in der Nazi-Arbeiterorganisation verbot,
der Arbeitsfront. Alle Arbeiter, die von den Leistungen
von Versicherung, Krankenleistungen oder anderen
lebenswichtigen Einrichtungen profitieren wollten, mussten
bei der Arbeitsfront Mitglied sein. Bald gab es keinen
deutschen Arbeiter, der nicht bei der Arbeitsfront
Mitglied war - aber Juden waren nicht darunter.
Die Wichtigkeit all dieser Faktoren für die Organisation
des JDC, der dem deutschen Judentum helfen wollte, war nur
all zu klar. "All dies, was während der letzten 50 Jahre
durch das Weltjudentum für ihre unterdrückten und
hilfsbedürftigen Brüder in der Welt getan wurde, wird sich
nun innerhalb von drei bis fünf Jahren beim deutschen
Judentum wiederholen."
(Endnote 17: Die Position der Juden in Deutschland ("The
Position of the Jews in Germany"), 4/28/33 [28. April
1933], 14-47)
[Numerus clausus für
Juden an deutschen NS-Schulen und Universitäten]
An der Front der Erziehung sah das Bild nicht besser aus.
Keine deutsche Schule konnte mehr als 5 % jüdische
Studenten unterrichten (S.113)
gemäss der Einschreibung. Bis zu diesem Zeitpunkt lag der
Prozentanteil an deutschen Hochschulen über 10 %. Nur 1,5
% der neuen Schüler an Universitäten konnten Juden sein,
und unter den alten Studenten durften nur 5 % jüdisch
sein. Kein osteuropäischer Jude, der in Deutschland nach
1914 angekommen war, durfte an deutschen Universitäten
Student sein. All diese Faktoren ergaben, dass das
Verteilungskomitee JDC es mit einer Notsituation zu tun
hatte. (S.114)