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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939


[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 3. Deutschland: 1933-1938
[3.11. Die Aufbauarbeit des Joint in NS-Deutschland ab 1933 - der Kampf der jüdischen Presse]

[Kassen]

Aufbauarbeit war natürlich ein anderer Bereich der JDC-Tätigkeit, der ein sehr spezielles Interesse auf sich zog. Viel wurde über die Notwendigkeit einer Aufbauarbeit in Deutschland geschrieben, obwohl die Betonung dann zurückging, als der Versuch einer gewaltsamen Vertreibung der Juden offensichtlich wurde. In den frühen 1930er Jahren aber war das noch nicht so klar,

Tabelle 6: Lohnkassen der Aufbaustiftung in Deutschland
Jahr
Anzahl Kassen
Kapital (in Mark)
Anzahl Kredite
Aufgelaufene Kredite (in Mark)
1933
42
934,000
1417
465,000
1935
60
848,000

880,000
1937
45

3500
1,070,000 

(S.130)

und das Verteilungskomitee JDC versuchte, durch die Aufbaustiftung, Lohnkassen in Deutschland gemäss dem guterprobten osteuropäischen Modell aufzubauen.

Nach 1937 machte die deutsche Regierung die Arbeit der Kassen praktisch unmöglich und es kam zu einem schnellen Niedergang, bis Ende 1938 die Arbeit der Kassen völlig zum Stillstand kam.

Das JDC versuchte auch, Freie Lohnkassen ausserhalb des Aufbaustifgungs-Systems einzurichten, wie in Polen, und investierte zwischen 1933 und 1937 über 400.000 Mark. Aber bevor sie richtig Fuss fassen konnten, machten die Nazis auch diese Arbeit unmöglich, und im Dezember wurden sie mit dem Rest der Kassen aufgelöst.

(Endnote 57:
-- Printer, S. 97;
-- 24-Gen. & Emerg. Germany, Foundation, 1933-39
-- 26-Gen & Emerg. Germany, Lists, etc. 1935/6
-- 28-30-ZA Bericht, 1936)

[1934: Weniger Antisemitismus in NS-Deutschland - Diskussionen über die jüdische Zukunft 1935]

Die Situation in Deutschland selbst schwankte von Jahr zu Jahr. Es kann nicht einmal gesagt werden, dass es immer einen ausgesprochenen Trend zum Schlechteren gab. Zum Beispiel im Jahr 1934 - das Jahr der grossen Säuberung innerhalb der Nazi-Partei (30. Juni) - da schien es, dass die antisemitischen Welle leicht abgeflaut wäre, und es gab keine neue Terror- oder Boykottwelle gegen die Juden. Kahn sagte: "Oberflächlich betrachtet könnte es so aussehen, dass sich in Deutschland ein gewisses Erlahmen breitmacht, was die Massnahmen gegen die jüdische Bevölkerung betrifft."

(Endnote 58: Kahns Bericht, 3/28/34 [28. März 1934]; In: WAC, Box 321 (b)

Über Hitler wurde berichtet, dass er sich an einer Sitzung mit den deutschen Statthaltern geäussert habe. In anderen Worten war immer noch Spielraum für Massnahmen innerhalb der Selbsttäuschung.

Hinter diesem Hintergrund ging in Deutschland die grosse Kontroverse zwischen den nationalistischen und den liberalen Flügeln des Judentums weiter. Die Zionisten verlangten die Anerkennung der jüdischen Besonderheiten auf der Basis einer jüdisch-nationalen Identifikation. Der liberale CV [Hilfsverein, Centralverein) lehnte diesen Standpunkt mit einer "absoluten Einstimmigkeit" ab, weil sie in Deutschland das Zentrum ihrer Bemühungen sahen, "jetzt, wie auch in der Vergangenheit".

(Endnote 59: CV-Blaetter für Deutschtum und Judentum, 1/10/35 [10. Januar 1935], von Dr. Emil Herzfeld. (Das Schicksal spielte mit Dr. Herzfeld: Er musste dann sofort nach Palästina auswandern, wo er im national-jüdischen Tel Aviv starb). Die Erklärung, die Hitlers Aussenpolitik unterstützte, war im November 1933 ausgegeben worden; siehe: Grunewald, op. cit. [The Beginning of the Reichsvertretung; In: Leo Baeck Yearbook; London 1956], S., 57 ff.)

Die liberalen Juden Deutschlands dachten offensichtlich, dass sie das Hitler-Regime würden überdauern können, und im Jahr 1934 und im Frühjahr 1935 war es immer noch möglich, dies zu glauben. Im Frühjahr 1935 war gerade Dr. Jonah B. Wise, einer der jüdischen Führer des JDC, nach Europa gereist. Er stimmte der Position vor allem von einem pragmatischen Standpunkt aus zu. Die Frage war, "dem Angriff von Hitler zu begegnen und ihn zu überleben. Sie (die deutschen Juden) fühlen, dass sie für einige Jahre Möglichkeiten zum Überleben haben. Wenn die Bedingungen sich nicht radikal ändern, dann werden viele wohlhabende Personen (S.131)

in Deutschland bleiben. Die meisten von ihnen werden bleiben, weil es keinen anderen Platz gibt, wohin sie gehen könnten, und kein Land will Leute über Vierzig, ausser sie seien in einigen Arbeitsgebieten hochspezialisiert." Aber Wise fügte eine Bemerkung hinzu, die im Frühling 1935 eine wachsende Überzeugung unter den deutschen Juden widerspiegelte: "Dass die jungen Leute auswandern werden, ist fast sicher. Es wird gesagt, dass Deutschland ein Altersheim und ein Friedhof werden wird."

(Endnote 60: Executive Committee, 3/26/35 [26. März 1935]; Hyman sagte in seinem Beitrag für eine Zusammenfassung von 1934 (R53): "Die Hoffnung der jüdischen Führer, eine ordentliche, konstruktive Umwandlung eines Teils des jüdischen Lebens zu finden, speziell für die Jugend, innerhalb der deutschen Grenzen selbst, in Ergänzung mit einer sorgfältig aufgezogenen Vorbereitung von jährlichen Auswanderungen, wurde enttäuscht, seit eine Berufsausbildung nur im Zuge einer Auswanderung erlaubt ist, sofort oder ultimativ." B.C. Vladeck, ein Labor-Mitglied des JDC-Exekutivkomitees, machte sich eine sozialistische Interpretation über dieselben Ideen zu eigen, als er in einer Diskussion mit dem Zionisten Berl Locker (12/23/35-WAC, Box 323 (d) sagte, dass "es in Deutschland eine grosse Untergrundbewegung von 'Ariern' gäbe, Sozialisten etc. die das faschistische Regime bekämpfen würden, und dass die Juden mit ihnen zusammen kämpfen müssten." Deshalb war es die Aufgabe der fortschrittlichen Juden in Deutschland, dort zu bleiben, wo sie waren).

[Ende 1933: Die RV unterstützt die Aussenpolitik Hitlers]

Die RV [Reichsvertretung] war in grossen Teilen unter der Kontrolle der Liberalen wie Hirsch, Seligsohn, und Brodnitz. Am Ende des Jahres 1933 kam die RV mit einer Deklaration heraus, die die Aussenpolitik Hitlers unterstützte; dies wurde nicht nur wegen des Drucks der Nazis so gemacht, sondern wegen den deutsch-fixierten Überzeugungen der führenden Mitglieder.

[Jan 1935: Die jüdischen Saar-Deutschen werden integriert]

Im Januar 1935 "hiess" sie die 4800 "jüdischen Saar-Deutschen zu Hause willkommen", nach der Saar-Abstimmung mit einem Resultat für einen Anschluss an Deutschland. (Saarländische Juden kamen sogar aus dem Ausland, um für den Anschluss an Deutschland zu stimmen!).

(Endnote 61: Jewish Chronicle, 1/13/35 [13. Januar 1935]. Am 18. berichtete der Chronicle, dass ein Mann mit Namen Herr Fischel extra aus Buenos Aires gekommen sei, um für Deutschland zu stimmen. Die Spesen waren vom deutschen Konsulat übernommen worden).

[Naumanns nationale deutsch-jüdische Sektion]

Da war aber noch eine extremistischere deutsche Sektion im Judentum, angeführt von Dr. Max Naumann, dessen Organisation versuchte, eine Kategorien der National-deutschen Juden ins Leben zu rufen. "Wir würden es als eine nationale Katastrophe für Deutschland und uns nationale Juden betrachten, die zu den besten Deutschen zählen, wenn Hitler das Schicksal des deutschen Volkes nicht in seinen Händen halten würde. Die Mitglieder unserer Liga, über 5000 Leute, stimmten wie ein Mann für Hitler als Reichspräsident. Hitler ist under Zukunft. Niemand ausser er kann die jüdische Frage lösen."

(Endnote 62: ebenda, 1/11/35 [11. Januar 1935]. Interview der La Croix mit Naumann)

Dies war natürlich die Meinung einer kleinen, verrückten Randgruppe, aber es fällt auf, dass diese Meinungen bis Ende 1934 und noch im Frühjahr 1935 geäussert wurden.

Die RV [Reichsvertretung] aber war weit von einem solchen gleichgültigen dienerischen Verhalten gegenüber der Nazi-Diktatur entfernt.

[Die jüdische Presse in NS-Deutschland: Die RV kämpft gegen das Regime: Streichers Stürmer]

Über das ganze Jahr 1935 hinweg versuchten Baeck und Hirsch und ihre Freunde zurückzuschlagen, mit der Unterstützung der ausländischen Organisationen, und sie brachten die Fälle an die noch legale deutsch-jüdische Presse. Am 8. Februar 1935 publizierte zum Beispiel die CV-Zeitung einen frontalen Angriff von Rabbi Eschelbacher gegen den Stürmer, die obszön-antisemitische Zeitung von Julius Streicher.

(Endnote 63: P. 11, in einem Artikel, genannt: Eine Nummer des Stuermer)

In derselben Ausgabe war eine direkte Attacke gegen Streicher selbst, eine "Anklage" gegen einen Oppositionsführer - (S.132)

der fälschlicherweise - ein Jude sei. Ein Argument das die RV [Reichsvertretung] gebrauchte, war, dass, seit das Nazi-Gesetz totalitär war, die Nazis mehr gegen die Juden hätten tun können als sie effektiv unternahmen. Es waren seitdem "nur" gewisse Einschränkungen in Kraft gesetzt worden. Die Schlussfolgerung war, dass das deutsche Judentum auf der Basis der aktuellen Gesetzesbücher das Recht zum Zurückschlagen hatte, dass sie eine Verschlimmerung der Situation durch Appelle an das Gesetz verhindern könnten.

(Endnote 64: CV-Zeitung, 1/31/35 [31. Januar 1935])

[Die jüdische Presse in NS-Deutschland: Öffentlicher Protest gegen Streicher]

In der Ausgabe vom 31. Januar 1935 war sogar ein öffentlicher Protest der RV gegen Streicher, unterschrieben von Baeck und Hirsch, mit dem Titel "Die Ehre der deutschen Juden". Er gipfelte in der Behauptung, dass "für die Wahrung unserer Ehre nichts anderes bleibt als der feierliche, öffentliche Protest."

(Endnote 65: ebenda [CV-Zeitung, 1/31/35 [31. Januar 1935]: "Zur Wahrung unserer Ehre bleibt uns nichts als feierlicher Protest.")

Eine Möglichkeit, gegen die entehrenden Gesetze an den Gerichtshöfen zu appellieren, wurde angedeutet.

[Die jüdische Presse in NS-Deutschland: Angriff gegen den Nazi-Minister Schemm]

In noch ausgesprochenerer Form wurde dieser Punkt am 14. Februar ausformuliert, als gegen den Nazi-Minister Schemm ein direkter Angriff abgedruckt wurde, der "Führer" der Nazi-Lehrervereinigung, der die jüdische Religion missbraucht hatte. Über Schemm wurde berichtet, dass er den christlichen Gott verleumdet habe, und dass er "nicht nur die Gefühle der deutschen Juden schwer beleidigt haben, sondern auch der Juden der ganzen Welt ebenfalls."

(Endnote 66: Ibid. [CV-Zeitung], 2/14/35 [14. Februar 1935], p.11)

[Die jüdische Presse in NS-Deutschland: Die Forderungen der Rundschau]

Die zionistische Jüdische Rundschau publizierte einen Artikel mit den Forderungen, dass die Regierung die Verleumdungen gegen Juden einstellen solle, dass sie unter der herrschenden Gesetzgebung für faire materielle Bedingungen sorgen solle, und dass ordentliche Auswanderungsprozeduren und autonome, kulturelle Institutionen eingerichtet werden sollten.

(Endnote 67: Zitat in Jewish Chronicle, 3/15/35 [15. März 1935])

Es muss daran erinnert werden, dass dies in Nazi-Deutschland fast zwei Jahre nach der Abschaffung der Parteien und der unabhängigen Presse geschah. Der Mut, den die RV an den Tag legte, war absolut bewundernswert, aber natürlich wurde kein Resultat erreicht.







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