[3.11. Die
Aufbauarbeit des Joint in NS-Deutschland ab 1933 -
der Kampf der jüdischen Presse]
[Kassen]
Aufbauarbeit war natürlich ein anderer Bereich der
JDC-Tätigkeit, der ein sehr spezielles Interesse auf
sich zog. Viel wurde über die Notwendigkeit einer
Aufbauarbeit in Deutschland geschrieben, obwohl die
Betonung dann zurückging, als der Versuch einer
gewaltsamen Vertreibung der Juden offensichtlich
wurde. In den frühen 1930er Jahren aber war das noch
nicht so klar,
Tabelle 6:
Lohnkassen der Aufbaustiftung in
Deutschland
|
Jahr
|
Anzahl Kassen
|
Kapital (in Mark)
|
Anzahl Kredite
|
Aufgelaufene Kredite (in Mark)
|
1933
|
42
|
934,000
|
1417
|
465,000
|
1935
|
60
|
848,000
|
|
880,000
|
1937
|
45
|
|
3500
|
1,070,000
|
(S.130)
und das Verteilungskomitee JDC versuchte, durch die
Aufbaustiftung, Lohnkassen in Deutschland gemäss dem
guterprobten osteuropäischen Modell aufzubauen.
Nach 1937 machte die deutsche Regierung die Arbeit der
Kassen praktisch unmöglich und es kam zu einem
schnellen Niedergang, bis Ende 1938 die Arbeit der
Kassen völlig zum Stillstand kam.
Das JDC versuchte auch, Freie Lohnkassen ausserhalb
des Aufbaustifgungs-Systems einzurichten, wie in
Polen, und investierte zwischen 1933 und 1937 über
400.000 Mark. Aber bevor sie richtig Fuss fassen
konnten, machten die Nazis auch diese Arbeit
unmöglich, und im Dezember wurden sie mit dem Rest der
Kassen aufgelöst.
(Endnote 57:
-- Printer, S. 97;
-- 24-Gen. & Emerg. Germany, Foundation, 1933-39
-- 26-Gen & Emerg. Germany, Lists, etc. 1935/6
-- 28-30-ZA Bericht, 1936)
[1934: Weniger
Antisemitismus in NS-Deutschland - Diskussionen über
die jüdische Zukunft 1935]
Die Situation in Deutschland selbst schwankte von Jahr
zu Jahr. Es kann nicht einmal gesagt werden, dass es
immer einen ausgesprochenen Trend zum Schlechteren
gab. Zum Beispiel im Jahr 1934 - das Jahr der grossen
Säuberung innerhalb der Nazi-Partei (30. Juni) - da
schien es, dass die antisemitischen Welle leicht
abgeflaut wäre, und es gab keine neue Terror- oder
Boykottwelle gegen die Juden. Kahn sagte:
"Oberflächlich betrachtet könnte es so aussehen, dass
sich in Deutschland ein gewisses Erlahmen breitmacht,
was die Massnahmen gegen die jüdische Bevölkerung
betrifft."
(Endnote 58: Kahns Bericht, 3/28/34 [28. März 1934];
In: WAC, Box 321 (b)
Über Hitler wurde berichtet, dass er sich an einer
Sitzung mit den deutschen Statthaltern geäussert habe.
In anderen Worten war immer noch Spielraum für
Massnahmen innerhalb der Selbsttäuschung.
Hinter diesem Hintergrund ging in Deutschland die
grosse Kontroverse zwischen den nationalistischen und
den liberalen Flügeln des Judentums weiter. Die
Zionisten verlangten die Anerkennung der jüdischen
Besonderheiten auf der Basis einer jüdisch-nationalen
Identifikation. Der liberale CV [Hilfsverein,
Centralverein) lehnte diesen Standpunkt mit einer
"absoluten Einstimmigkeit" ab, weil sie in Deutschland
das Zentrum ihrer Bemühungen sahen, "jetzt, wie auch
in der Vergangenheit".
(Endnote 59: CV-Blaetter für Deutschtum und Judentum,
1/10/35 [10. Januar 1935], von Dr. Emil Herzfeld. (Das
Schicksal spielte mit Dr. Herzfeld: Er musste dann
sofort nach Palästina auswandern, wo er im
national-jüdischen Tel Aviv starb). Die Erklärung, die
Hitlers Aussenpolitik unterstützte, war im November
1933 ausgegeben worden; siehe: Grunewald, op. cit.
[The Beginning of the Reichsvertretung; In: Leo Baeck
Yearbook; London 1956], S., 57 ff.)
Die liberalen Juden Deutschlands dachten
offensichtlich, dass sie das Hitler-Regime würden
überdauern können, und im Jahr 1934 und im Frühjahr
1935 war es immer noch möglich, dies zu glauben. Im
Frühjahr 1935 war gerade Dr. Jonah B. Wise, einer der
jüdischen Führer des JDC, nach Europa gereist. Er
stimmte der Position vor allem von einem pragmatischen
Standpunkt aus zu. Die Frage war, "dem Angriff von
Hitler zu begegnen und ihn zu überleben. Sie (die
deutschen Juden) fühlen, dass sie für einige Jahre
Möglichkeiten zum Überleben haben. Wenn die
Bedingungen sich nicht radikal ändern, dann werden
viele wohlhabende Personen (S.131)
in Deutschland bleiben. Die meisten von ihnen werden
bleiben, weil es keinen anderen Platz gibt, wohin sie
gehen könnten, und kein Land will Leute über Vierzig,
ausser sie seien in einigen Arbeitsgebieten
hochspezialisiert." Aber Wise fügte eine Bemerkung
hinzu, die im Frühling 1935 eine wachsende Überzeugung
unter den deutschen Juden widerspiegelte: "Dass die
jungen Leute auswandern werden, ist fast sicher. Es
wird gesagt, dass Deutschland ein Altersheim und ein
Friedhof werden wird."
(Endnote 60: Executive Committee, 3/26/35 [26. März
1935]; Hyman sagte in seinem Beitrag für eine
Zusammenfassung von 1934 (R53): "Die Hoffnung der
jüdischen Führer, eine ordentliche, konstruktive
Umwandlung eines Teils des jüdischen Lebens zu finden,
speziell für die Jugend, innerhalb der deutschen
Grenzen selbst, in Ergänzung mit einer sorgfältig
aufgezogenen Vorbereitung von jährlichen
Auswanderungen, wurde enttäuscht, seit eine
Berufsausbildung nur im Zuge einer Auswanderung
erlaubt ist, sofort oder ultimativ." B.C. Vladeck, ein
Labor-Mitglied des JDC-Exekutivkomitees, machte sich
eine sozialistische Interpretation über dieselben
Ideen zu eigen, als er in einer Diskussion mit dem
Zionisten Berl Locker (12/23/35-WAC, Box 323 (d)
sagte, dass "es in Deutschland eine grosse
Untergrundbewegung von 'Ariern' gäbe, Sozialisten etc.
die das faschistische Regime bekämpfen würden, und
dass die Juden mit ihnen zusammen kämpfen müssten."
Deshalb war es die Aufgabe der fortschrittlichen Juden
in Deutschland, dort zu bleiben, wo sie waren).
[Ende 1933: Die RV
unterstützt die Aussenpolitik Hitlers]
Die RV [Reichsvertretung] war in grossen Teilen unter
der Kontrolle der Liberalen wie Hirsch, Seligsohn, und
Brodnitz. Am Ende des Jahres 1933 kam die RV mit einer
Deklaration heraus, die die Aussenpolitik Hitlers
unterstützte; dies wurde nicht nur wegen des Drucks
der Nazis so gemacht, sondern wegen den
deutsch-fixierten Überzeugungen der führenden
Mitglieder.
[Jan 1935: Die
jüdischen Saar-Deutschen werden integriert]
Im Januar 1935 "hiess" sie die 4800 "jüdischen
Saar-Deutschen zu Hause willkommen", nach der
Saar-Abstimmung mit einem Resultat für einen Anschluss
an Deutschland. (Saarländische Juden kamen sogar aus
dem Ausland, um für den Anschluss an Deutschland zu
stimmen!).
(Endnote 61: Jewish Chronicle, 1/13/35 [13. Januar
1935]. Am 18. berichtete der Chronicle, dass ein Mann
mit Namen Herr Fischel extra aus Buenos Aires gekommen
sei, um für Deutschland zu stimmen. Die Spesen waren
vom deutschen Konsulat übernommen worden).
[Naumanns nationale
deutsch-jüdische Sektion]
Da war aber noch eine extremistischere deutsche
Sektion im Judentum, angeführt von Dr. Max Naumann,
dessen Organisation versuchte, eine Kategorien der
National-deutschen Juden ins Leben zu rufen. "Wir
würden es als eine nationale Katastrophe für
Deutschland und uns nationale Juden betrachten, die zu
den besten Deutschen zählen, wenn Hitler das Schicksal
des deutschen Volkes nicht in seinen Händen halten
würde. Die Mitglieder unserer Liga, über 5000 Leute,
stimmten wie ein Mann für Hitler als Reichspräsident.
Hitler ist under Zukunft. Niemand ausser er kann die
jüdische Frage lösen."
(Endnote 62: ebenda, 1/11/35 [11. Januar 1935].
Interview der
La
Croix mit Naumann)
Dies war natürlich die Meinung einer kleinen,
verrückten Randgruppe, aber es fällt auf, dass diese
Meinungen bis Ende 1934 und noch im Frühjahr 1935
geäussert wurden.
Die RV [Reichsvertretung] aber war weit von einem
solchen gleichgültigen dienerischen Verhalten
gegenüber der Nazi-Diktatur entfernt.
[Die jüdische Presse
in NS-Deutschland: Die RV kämpft gegen das Regime:
Streichers Stürmer]
Über das ganze Jahr 1935 hinweg versuchten Baeck und
Hirsch und ihre Freunde zurückzuschlagen, mit der
Unterstützung der ausländischen Organisationen, und
sie brachten die Fälle an die noch legale
deutsch-jüdische Presse. Am 8. Februar 1935
publizierte zum Beispiel die
CV-Zeitung einen frontalen Angriff
von Rabbi Eschelbacher gegen den
Stürmer, die
obszön-antisemitische Zeitung von Julius Streicher.
(Endnote 63: P. 11, in einem Artikel, genannt: Eine
Nummer des Stuermer)
In derselben Ausgabe war eine direkte Attacke gegen
Streicher selbst, eine "Anklage" gegen einen
Oppositionsführer - (S.132)
der fälschlicherweise - ein Jude sei. Ein Argument das
die RV [Reichsvertretung] gebrauchte, war, dass, seit
das Nazi-Gesetz totalitär war, die Nazis mehr gegen
die Juden hätten tun können als sie effektiv
unternahmen. Es waren seitdem "nur" gewisse
Einschränkungen in Kraft gesetzt worden. Die
Schlussfolgerung war, dass das deutsche Judentum auf
der Basis der aktuellen Gesetzesbücher das Recht zum
Zurückschlagen hatte, dass sie eine Verschlimmerung
der Situation durch Appelle an das Gesetz verhindern
könnten.
(Endnote 64: CV-Zeitung, 1/31/35 [31. Januar 1935])
[Die jüdische Presse
in NS-Deutschland: Öffentlicher Protest gegen
Streicher]
In der Ausgabe vom 31. Januar 1935 war sogar ein
öffentlicher Protest der RV gegen Streicher,
unterschrieben von Baeck und Hirsch, mit dem Titel
"Die Ehre der deutschen Juden". Er gipfelte in der
Behauptung, dass "für die Wahrung unserer Ehre nichts
anderes bleibt als der feierliche, öffentliche
Protest."
(Endnote 65: ebenda [CV-Zeitung, 1/31/35 [31. Januar
1935]: "Zur Wahrung unserer Ehre bleibt uns nichts als
feierlicher Protest.")
Eine Möglichkeit, gegen die entehrenden Gesetze an den
Gerichtshöfen zu appellieren, wurde angedeutet.
[Die jüdische Presse
in NS-Deutschland: Angriff gegen den Nazi-Minister
Schemm]
In noch ausgesprochenerer Form wurde dieser Punkt am
14. Februar ausformuliert, als gegen den Nazi-Minister
Schemm ein direkter Angriff abgedruckt wurde, der
"Führer" der Nazi-Lehrervereinigung, der die jüdische
Religion missbraucht hatte. Über Schemm wurde
berichtet, dass er den christlichen Gott verleumdet
habe, und dass er "nicht nur die Gefühle der deutschen
Juden schwer beleidigt haben, sondern auch der Juden
der ganzen Welt ebenfalls."
(Endnote 66: Ibid. [CV-Zeitung], 2/14/35 [14. Februar
1935], p.11)
[Die jüdische Presse
in NS-Deutschland: Die Forderungen der Rundschau]
Die zionistische
Jüdische
Rundschau publizierte einen Artikel mit den
Forderungen, dass die Regierung die Verleumdungen
gegen Juden einstellen solle, dass sie unter der
herrschenden Gesetzgebung für faire materielle
Bedingungen sorgen solle, und dass ordentliche
Auswanderungsprozeduren und autonome, kulturelle
Institutionen eingerichtet werden sollten.
(Endnote 67: Zitat in
Jewish Chronicle, 3/15/35 [15. März
1935])
Es muss daran erinnert werden, dass dies in
Nazi-Deutschland fast zwei Jahre nach der Abschaffung
der Parteien und der unabhängigen Presse geschah. Der
Mut, den die RV an den Tag legte, war absolut
bewundernswert, aber natürlich wurde kein Resultat
erreicht.