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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939


[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 4. Flüchtlinge: 1933-1938
[4.17. Jüdischer Hafen Schweiz 1933-1938 - meist vorübergehend für die Auswanderung nach Übersee]

[Einreise ohne Visum möglich]
Die Position der Schweiz war in vielerlei Hinsicht gleich [wie in Belgien]. Für die Einreise ins Land wurde kein Visum benötigt. Papiere zur Identifikation wurden natürlich verlangt. Die Schweiz war daran interessiert (S.172), die Tourismusindustrie aufrechtzuerhalten, und sie hatte auch eine starke Tradition, politischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren.

[Die rechtsradikalen Frontistenparteien provozieren mit anti-jüdischer Propaganda]

Gleichzeitig aber waren da in vielen der mehr konservativen Teile der Eidgenossenschaft starke antijüdische Gefühle (die Schweiz hatte den Juden bis 1866 keine generelle Einreise ins Land gewährt), und im Frühjahr 1933 entpuppte sich die Nationale Front, die vom Ex-Generalstabschef der Schweizer Armee unterstützt wurde, als eine Nazigruppe. Die Propaganda basierte in weiten Teilen auf antisemitischen Themen. Im Herbst 1933 erreichten die schweizer Nazis bedeutende Gewinne bei kantonalen Wahlen und bei Gemeindewahlen. Ihre Propaganda sorgte für einen Hintergrund, vor dem vor dem Schweizer Gerichtshof eine Klage gegen die verleumderischen Protokolle von Zion eingebracht wurde; sofort wurden die Protokolle als bewiesene Fälschung deklariert.

[Und diese Propaganda wird in diesen "neutralen" Staat als legal bewertet, samt dem Bankgeheimnis, das am Ende auch den Nazis diente...]

Die schweizer Juden machten 1933 ungefähr 18.000 Personen aus.

(Endnote 86: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.60)

[Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund SIG setzt sich für deutsch-jüdische Flüchtlinge ein - kein Geld vom Vereinigten Verteilungskomitee benötigt]

Das schweizer Judentum war unter dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) organisiert, gegründet 1904, und in den frühen 1930er Jahren war der Präsident ein Mitglied einer der alten schweizerisch-jüdischen Familien, Jules Dreyfus-Brodsky. Wie in Holland, aber nicht so wie in Frankreich, arbeitete eine vereinigte jüdische Repräsentation für die Flüchtlinge aus Deutschland, und das war bedeutend einfacher. Eine bereits existierende Organisation schloss sich dem SIG an, der Verein Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA), der sich der Pflege der Flüchtlinge widmete. Unter den Führern des VSIA, ein Fabrikant aus Sankt-Gallen, Saly Mayer, war im Bereich von Hilfe und Rettung bald als prominente Persönlichkeit bekannt.

Zu Beginn der Massenflucht in die Schweiz waren es vor allem betuchte Leute die kamen. Von April bis September 1933 scheinen es ungefähr 10.000 Leute gewesen zu sein, vermutlich meist jüdisch, die via Basel in die Schweiz kamen.

(Endnote 87: ebenda. [Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957])], S.65)

Wie in anderen Ländern jedoch kehrte ein hoher Prozentsatz der Flüchtlinge in kurzer Zeit nach Deutschland zurück. Es scheint, dass die Juden, die in der Schweiz blieben, im Jahr 1933 über 5000 waren, und die schweizer Gemeinde sammelte über 150.000 Schweizer Franken, um ungefähr die Hälfte dieser Juden zu unterstützen, die mittellos waren. Also wurde vom JDC im Jahr 1933 keine Hilfe gebraucht. (S.173)

(Endnote 88: SIG, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen; Zürich, ohne Datum [1954], S. 13 (Dr. Leo Littmann: 50 Jahre Gemeindebund)

[7. April 1933: Die schweizer Regierung lehnt den Status "politischer Flüchtling" ab]

Die Haltung der schweizer Regierung gegenüber diesen Flüchtlingen war zwiespältig. Ein polizeiliches Rundschreiben vom 20. April 1933 - auf der Basis einer Entscheidung der Regierung (Bundesrat) vom 7. April, erklärte, dass Juden nur dann als politische Flüchtlinge gelten sollten, wenn sie in Deutschland politische, bekannte Persönlichkeiten waren; die generellen antisemitischen Aktionen der Nazi-Regierung gab den Juden keinen politischen Flüchtlingsstatus.

(Endnote 89: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.55)

[31. März 1933: Die schweizer Regierung stellt fest, dass jüdische Flüchtlinge nur vorübergehend bleiben können]

Ein Rundschreiben vom 13. März definierte, was in den folgenden Jahren der Standard der schweizer Politik wurde: Juden konnten auf rein vorübergehender Basis in die Schweiz gelangen. Das hiess, sie konnten nur dann in die Schweiz gelangen, wenn sie bei Gelegenheit für ihre möglichst schnelle Weiterreise sorgten.

[Die schweizer Bevölkerung half den Juden, Visas nach Übersee zu bekommen und nahm dafür von den Juden viel Geld. Gleichzeitig war die Schweiz das Ferienzentrum der Nazis in Davos (Sanatorium) und in Zürich (Banken). Die ganze Schweiz war mit Ferienhäusern der deutschen Nazi-Jugend übersät, und die Rechtsradikalen waren "vorbereitet" mit zukünftigen Gauleitern, und Gelände waren schon ausgesucht, wo man Konzentrationslager errichten könnte, wenn Hitlers Armee erst einmal kommen würde].

[Das Argument der schweizer Regierung der "Überfremdung" ohne Basis - weniger als 0.5 % Juden in der Schweiz]

Zwei Argumente wurden gegen das Siedeln von Juden in der Schweiz vorgeschoben: Arbeitslosigkeit und die Gefahr, dass das Land von Fremden überschwemmt würde (Überfremdung). Das Problem der Arbeitslosigkeit war tatsächlich ernst, denn in der Bevölkerung von weniger als 4 Millionen waren im Jahr 1933 68.000 arbeitslos, und im Jahr 1936 waren es 39.000; die Gewerkschaften lehnten den Zulauf weiterer Arbeiter scharf ab, vor allem bei den Berufen.

Aber die Anzahl der Juden, die in der Schweiz versuchten, Arbeit zu finden, war sehr klein; die Gesamtzahl der Juden in der Schweiz war unter 0,5 % der schweizer Bevölkerung. Das Argument der Überfremdung hatte also keine Basis und war nur ein Vorurteil, das direkt gegen die Juden speziell aus Osteuropa gerichtet war, die gegenüber dem schweizerischen Lebensstil zu Fremdlingen (Wesensfremd) erklärt wurden.

[Ergänzung: Es gab 1918-1922 eine jüdische Einwanderung mit einigen Juden aus Osteuropa, die wirklich dem schweizerischen Lebensstil wesensfremd war, und diese wurden von der Propaganda immer als Beispiel angeführt].

Es war klar, dass der Anteil der Ausländer in der Schweiz höher war als in jedem anderen europäischen Land (14,7 % im Jahr 1930, und 8,7 % im Jahr 1930), aber der jüdische Anteil an dieser Prozentquote war verschwindend klein.

(Endnote 90: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.59-60)

[Die Arbeit des SIG: Unterstützung der jüdischen Flüchtlinge für weitere Auswanderung]

Der SIG war mit der extrem sorgfältigen bis feindlichen Haltung des schweizerischen Justizdepartementes und der Polizei konfrontiert. Er unternahm deswegen Massnahmen, jeden Flüchtling zu unterstützen, der ohne Mittel war, und versuchte sein bestes, um das Problem der jüdischen Flüchtlinge ausserhalb der Öffentlichkeit zu halten. Es scheint so, dass Dreyfus-Brodsky sich Mühe gab, den schweizer Behörden klar zu machen, dass der SIG an der Einreise von so vielen Flüchtlingen wie möglich interessiert war, während es gleichzeitig eine Übereinkunft mit der Polizei gab, sie so schnell wie möglich durch Auswanderung wieder loszuwerden. (S.174)

(Endnote 91: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.69; Ludwig zeigt, dass dies nicht der einzige Fall war, wo schweizerisch-jüdische Führer solche Meinungen preisgaben).

Es ist unklar, ob dies gesagt wurde, weil es politisch angebracht war, dies zu sagen, oder, ob die Angst vor Antisemitismus oder andere Motive eine Rolle spielten. Auf jeden Fall führte der SIG eine öffentliche Schlacht gegen den schweizerischen Antisemitismus, und im Jahr 1936 wurde er eine Mitgliederorganisation des Jüdischen Weltkongresses. Seit 1936 machte der SIG jedoch keinen Versuch zur Lockerung der restriktiven Praktiken der Regierung, weder durch politischen Druck, noch durch indirekte Intervention.

[Staatenlose Juden seit 1934 - die schweizer Regierung erlaubt die Aufnahme - die Aufnahme von Kindern ist nicht erlaubt]

Die Bundesregierung führte ihren Schlingerkurs zwischen Einschränkungs-Kurs und der Tendenz der Beibehaltung der liberalen Traditionen, den Flüchtlingen zu helfen, fort. Als Deutschland begann, einer eher grossen Anzahl Flüchtlinge die Staatsbürgerschaft zu entziehen, so dass diese zu staatenlosen Personen wurden, da gab die Abteilung der Fremdenpolizei (am 14. September 1934) ein weiteres Rundschreiben heraus, das die kantonalen Behörden aufforderte, diesen Leuten die Aufnahme nicht zu verweigert, nur weil sie staatenlose geworden waren; aber als die Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder (SHEK) die Regierung bat, Kinder von Auswanderer ins Land aufzunehmen, war die Antwort scharf negativ.

[Seit 1934: Dokumentenstreit wegen staatenlosen deutsch-jüdischen Flüchtlingen - Konvention 1937]

In der Zwischenzeit [im Jahr 1934, als das Dritte Reich die deutsch-jüdischen Flüchtlinge mehr und mehr zu staatenlosen Personen ohne Nationalität machte] machten sich mehr und mehr internationale Organisationen wie auch Regierungen Sorge um das Problem von Identifikationspapieren der Flüchtlinge. MacDonalds Versuch, die Regierungen davon zu überzeugen, die Flüchtlinge mit speziellen Identifikationspapieren auszustatten, war fehlgeschlagen. Nach seinem Rücktritt im Juli 1936 fand unter der Schirmherrschaft des Völkerbundes in Genf eine Konferenz statt, wo für die besorgten Regierungen ein Abkommen zur Ratifizierung vorgeschlagen wurde, das den Flüchtlingen entsprechende Papiere zusichern sollte, ähnlich wie der Nansen-Pass in einem früheren Jahrzehnt.

Unter der neuen Konvention unterliessen es die Regierungen, Flüchtlinge nach Deutschland zu deportieren, ausser wenn eine betroffene Person die Vorbereitungen zur Auswanderung in ein anderes Land willentlich verweigerte. Obwohl die Schweiz nicht der erste Staat sein wollte, der die Konvention unterschrieb, so setzten sie die Artikel des Abkommens um. Schliesslich unterschrieb die Schweiz die Konvention im August 1937, nachdem eine Anzahl anderer Staaten es schon getan hatte. Danach erklärte die Ausländerpolizei (auch im August 1937), dass Deportationen von Flüchtlingen nach Deutschland nur im Ausnahmefall unternommen werden sollten.

(Endnote 92: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.70)

[Wachsende Beziehungen zwischen dem JDC und dem SIG 1933-1937]

Die Hilfe des Verteilungskomitees lief bis 1938 nicht an den VSIA [Verein Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen], als (S.175)

klar wurde, dass die lokalen Gemeinden die grosse Anzahl jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich nicht würden finanzieren können. Von April 1933 bis Ende 1937 wurden vom schweizerischen Judentum über 700.000 Schweizer Franken ausgegeben, oder ungefähr 8 Schweizer Franken (2 $) pro Person pro Jahr. Das war beträchtlich mehr als bei jeder anderen jüdischen Gemeinde zur selben Zeit. Währen das JDC nicht viel mehr tat, als die Situation zu beobachten, wurde das Verhältnis zwischen Kahn und seinem Nachfolger, Morris C. Troper, einerseits, und den Führungspersonen des SIG andererseits, schrittweise immer enger. So war es speziell nach dem Jahr 1936, als Saly Mayer Präsident des SIG wurde. Die Wichtigkeit dieser Verbindung bestätigte sich später von selbst. Bis zur grossen Flucht in die Schweiz im Jahre 1938 war die Anzahl Flüchtlinge nicht hoch. Im Jahr 1935 schätzte Kahn 2000 jüdische Flüchtlinge, von denen einige 100 Hilfe brauchten.

(Endnote 93: R14, Kahn Bericht von Januar 1936 über das Jahr 1935. Ungefähr durchschnittlich 300 Personen wurden durch den VSIA umsorgt. Die Ausgaben des Vereinigten Verteilungskomitees beliefen sich im Jahr 1935 auf 7010 $, im Jahr 1936 auf 4200 $, im Jahr 1937 auf 4935 $. Einige Spitäler und kulturelle Einrichtungen wurden unterstützt).






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