[4.17.
Jüdischer Hafen Schweiz 1933-1938 - meist
vorübergehend für die Auswanderung nach Übersee]
[Einreise ohne Visum
möglich]
Die Position der Schweiz war in vielerlei Hinsicht gleich
[wie in Belgien]. Für die Einreise ins Land wurde kein
Visum benötigt. Papiere zur Identifikation wurden
natürlich verlangt. Die Schweiz war daran interessiert
(S.172), die Tourismusindustrie aufrechtzuerhalten, und
sie hatte auch eine starke Tradition, politischen
Flüchtlingen Asyl zu gewähren.
[Die rechtsradikalen
Frontistenparteien provozieren mit anti-jüdischer
Propaganda]
Gleichzeitig aber
waren da in vielen der mehr konservativen Teile der
Eidgenossenschaft starke antijüdische Gefühle (die Schweiz
hatte den Juden bis 1866 keine generelle Einreise ins Land
gewährt), und im Frühjahr 1933 entpuppte sich die
Nationale Front, die vom Ex-Generalstabschef der Schweizer
Armee unterstützt wurde, als eine Nazigruppe. Die
Propaganda basierte in weiten Teilen auf antisemitischen
Themen. Im Herbst 1933 erreichten die schweizer Nazis
bedeutende Gewinne bei kantonalen Wahlen und bei
Gemeindewahlen. Ihre Propaganda sorgte für einen
Hintergrund, vor dem vor dem Schweizer Gerichtshof eine
Klage gegen die verleumderischen
Protokolle von Zion eingebracht wurde;
sofort wurden die
Protokolle
als bewiesene Fälschung deklariert.
[Und diese Propaganda wird in diesen "neutralen" Staat als
legal bewertet, samt dem Bankgeheimnis, das am Ende auch
den Nazis diente...]
Die schweizer Juden machten 1933 ungefähr 18.000 Personen
aus.
(Endnote 86: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der
Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.60)
[Schweizerischer
Israelitischer Gemeindebund SIG setzt sich für
deutsch-jüdische Flüchtlinge ein - kein Geld vom
Vereinigten Verteilungskomitee benötigt]
Das schweizer Judentum war unter dem Schweizerischen
Israelitischen Gemeindebund (SIG) organisiert, gegründet
1904, und in den frühen 1930er Jahren war der Präsident
ein Mitglied einer der alten schweizerisch-jüdischen
Familien, Jules Dreyfus-Brodsky. Wie in Holland, aber
nicht so wie in Frankreich, arbeitete eine vereinigte
jüdische Repräsentation für die Flüchtlinge aus
Deutschland, und das war bedeutend einfacher. Eine bereits
existierende Organisation schloss sich dem SIG an, der
Verein Schweizerischer Israelitischer Armenpflegen (VSIA),
der sich der Pflege der Flüchtlinge widmete. Unter den
Führern des VSIA, ein Fabrikant aus Sankt-Gallen, Saly
Mayer, war im Bereich von Hilfe und Rettung bald als
prominente Persönlichkeit bekannt.
Zu Beginn der Massenflucht in die Schweiz waren es vor
allem betuchte Leute die kamen. Von April bis September
1933 scheinen es ungefähr 10.000 Leute gewesen zu sein,
vermutlich meist jüdisch, die via Basel in die Schweiz
kamen.
(Endnote 87: ebenda. [Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik
der Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957])], S.65)
Wie in anderen Ländern jedoch kehrte ein hoher Prozentsatz
der Flüchtlinge in kurzer Zeit nach Deutschland zurück. Es
scheint, dass die Juden, die in der Schweiz blieben, im
Jahr 1933 über 5000 waren, und die schweizer Gemeinde
sammelte über 150.000 Schweizer Franken, um ungefähr die
Hälfte dieser Juden zu unterstützen, die mittellos waren.
Also wurde vom JDC im Jahr 1933 keine Hilfe gebraucht.
(S.173)
(Endnote 88: SIG, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen;
Zürich, ohne Datum [1954], S. 13 (Dr. Leo Littmann: 50
Jahre Gemeindebund)
[7. April 1933: Die
schweizer Regierung lehnt den Status "politischer
Flüchtling" ab]
Die Haltung der schweizer Regierung gegenüber diesen
Flüchtlingen war zwiespältig. Ein polizeiliches
Rundschreiben vom 20. April 1933 - auf der Basis einer
Entscheidung der Regierung (Bundesrat) vom 7. April,
erklärte, dass Juden nur dann als politische Flüchtlinge
gelten sollten, wenn sie in Deutschland politische,
bekannte Persönlichkeiten waren; die generellen
antisemitischen Aktionen der Nazi-Regierung gab den Juden
keinen politischen Flüchtlingsstatus.
(Endnote 89: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der
Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.55)
[31. März 1933: Die
schweizer Regierung stellt fest, dass jüdische
Flüchtlinge nur vorübergehend bleiben können]
Ein Rundschreiben vom 13. März definierte, was in den
folgenden Jahren der Standard der schweizer Politik wurde:
Juden konnten auf rein vorübergehender Basis in die
Schweiz gelangen. Das hiess, sie konnten nur dann in die
Schweiz gelangen, wenn sie bei Gelegenheit für ihre
möglichst schnelle Weiterreise sorgten.
[Die schweizer Bevölkerung half den Juden, Visas nach
Übersee zu bekommen und nahm dafür von den Juden viel
Geld. Gleichzeitig war die Schweiz das Ferienzentrum der
Nazis in Davos (Sanatorium) und in Zürich (Banken). Die
ganze Schweiz war mit Ferienhäusern der deutschen
Nazi-Jugend übersät, und die Rechtsradikalen waren
"vorbereitet" mit zukünftigen Gauleitern, und Gelände
waren schon ausgesucht, wo man Konzentrationslager
errichten könnte, wenn Hitlers Armee erst einmal kommen
würde].
[Das Argument der
schweizer Regierung der "Überfremdung" ohne Basis -
weniger als 0.5 % Juden in der Schweiz]
Zwei Argumente wurden gegen das Siedeln von Juden in der
Schweiz vorgeschoben: Arbeitslosigkeit und die Gefahr,
dass das Land von Fremden überschwemmt würde
(Überfremdung). Das
Problem der Arbeitslosigkeit war tatsächlich ernst, denn
in der Bevölkerung von weniger als 4 Millionen waren im
Jahr 1933 68.000 arbeitslos, und im Jahr 1936 waren es
39.000; die Gewerkschaften lehnten den Zulauf weiterer
Arbeiter scharf ab, vor allem bei den Berufen.
Aber die Anzahl der Juden, die in der Schweiz versuchten,
Arbeit zu finden, war sehr klein; die Gesamtzahl der Juden
in der Schweiz war unter 0,5 % der schweizer Bevölkerung.
Das Argument der Überfremdung hatte also keine Basis und
war nur ein Vorurteil, das direkt gegen die Juden speziell
aus Osteuropa gerichtet war, die gegenüber dem
schweizerischen Lebensstil zu Fremdlingen
(Wesensfremd) erklärt
wurden.
[Ergänzung: Es gab 1918-1922 eine jüdische Einwanderung
mit einigen Juden aus Osteuropa, die wirklich dem
schweizerischen Lebensstil wesensfremd war, und diese
wurden von der Propaganda immer als Beispiel angeführt].
Es war klar, dass der Anteil der Ausländer in der Schweiz
höher war als in jedem anderen europäischen Land (14,7 %
im Jahr 1930, und 8,7 % im Jahr 1930), aber der jüdische
Anteil an dieser Prozentquote war verschwindend klein.
(Endnote 90: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der
Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.59-60)
[Die Arbeit des SIG:
Unterstützung der jüdischen Flüchtlinge für weitere
Auswanderung]
Der SIG war mit der extrem sorgfältigen bis feindlichen
Haltung des schweizerischen Justizdepartementes und der
Polizei konfrontiert. Er unternahm deswegen Massnahmen,
jeden Flüchtling zu unterstützen, der ohne Mittel war, und
versuchte sein bestes, um das Problem der jüdischen
Flüchtlinge ausserhalb der Öffentlichkeit zu halten. Es
scheint so, dass Dreyfus-Brodsky sich Mühe gab, den
schweizer Behörden klar zu machen, dass der SIG an der
Einreise von so vielen Flüchtlingen wie möglich
interessiert war, während es gleichzeitig eine
Übereinkunft mit der Polizei gab, sie so schnell wie
möglich durch Auswanderung wieder loszuwerden. (S.174)
(Endnote 91: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der
Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.69; Ludwig zeigt,
dass dies nicht der einzige Fall war, wo
schweizerisch-jüdische Führer solche Meinungen
preisgaben).
Es ist unklar, ob dies gesagt wurde, weil es politisch
angebracht war, dies zu sagen, oder, ob die Angst vor
Antisemitismus oder andere Motive eine Rolle spielten. Auf
jeden Fall führte der SIG eine öffentliche Schlacht gegen
den schweizerischen Antisemitismus, und im Jahr 1936 wurde
er eine Mitgliederorganisation des Jüdischen
Weltkongresses. Seit 1936 machte der SIG jedoch keinen
Versuch zur Lockerung der restriktiven Praktiken der
Regierung, weder durch politischen Druck, noch durch
indirekte Intervention.
[Staatenlose Juden seit
1934 - die schweizer Regierung erlaubt die Aufnahme -
die Aufnahme von Kindern ist nicht erlaubt]
Die Bundesregierung führte ihren Schlingerkurs zwischen
Einschränkungs-Kurs und der Tendenz der Beibehaltung der
liberalen Traditionen, den Flüchtlingen zu helfen, fort.
Als Deutschland begann, einer eher grossen Anzahl
Flüchtlinge die Staatsbürgerschaft zu entziehen, so dass
diese zu staatenlosen Personen wurden, da gab die
Abteilung der Fremdenpolizei (am 14. September 1934) ein
weiteres Rundschreiben heraus, das die kantonalen Behörden
aufforderte, diesen Leuten die Aufnahme nicht zu
verweigert, nur weil sie staatenlose geworden waren; aber
als die Schweizerische Hilfswerk für Emigrantenkinder
(SHEK) die Regierung bat, Kinder von Auswanderer ins Land
aufzunehmen, war die Antwort scharf negativ.
[Seit 1934:
Dokumentenstreit wegen staatenlosen deutsch-jüdischen
Flüchtlingen - Konvention 1937]
In der Zwischenzeit [im Jahr 1934, als das Dritte Reich
die deutsch-jüdischen Flüchtlinge mehr und mehr zu
staatenlosen Personen ohne Nationalität machte] machten
sich mehr und mehr internationale Organisationen wie auch
Regierungen Sorge um das Problem von
Identifikationspapieren der Flüchtlinge. MacDonalds
Versuch, die Regierungen davon zu überzeugen, die
Flüchtlinge mit speziellen Identifikationspapieren
auszustatten, war fehlgeschlagen. Nach seinem Rücktritt im
Juli 1936 fand unter der Schirmherrschaft des Völkerbundes
in Genf eine Konferenz statt, wo für die besorgten
Regierungen ein Abkommen zur Ratifizierung vorgeschlagen
wurde, das den Flüchtlingen entsprechende Papiere
zusichern sollte, ähnlich wie der Nansen-Pass in einem
früheren Jahrzehnt.
Unter der neuen Konvention unterliessen es die
Regierungen, Flüchtlinge nach Deutschland zu deportieren,
ausser wenn eine betroffene Person die Vorbereitungen zur
Auswanderung in ein anderes Land willentlich verweigerte.
Obwohl die Schweiz nicht der erste Staat sein wollte, der
die Konvention unterschrieb, so setzten sie die Artikel
des Abkommens um. Schliesslich unterschrieb die Schweiz
die Konvention im August 1937, nachdem eine Anzahl anderer
Staaten es schon getan hatte. Danach erklärte die
Ausländerpolizei (auch im August 1937), dass Deportationen
von Flüchtlingen nach Deutschland nur im Ausnahmefall
unternommen werden sollten.
(Endnote 92: Carl Ludwig: Die Flüchtlingspolitik der
Schweiz seit 1933 bis zur Gegenwart. Bericht an den
Bundesrat; Zürich, ohne Datum [1957]), S.70)
[Wachsende Beziehungen
zwischen dem JDC und dem SIG 1933-1937]
Die Hilfe des Verteilungskomitees lief bis 1938 nicht an
den VSIA [Verein Schweizerischer Israelitischer
Armenpflegen], als (S.175)
klar wurde, dass die lokalen Gemeinden die grosse Anzahl
jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich nicht
würden finanzieren können. Von April 1933 bis Ende 1937
wurden vom schweizerischen Judentum über 700.000 Schweizer
Franken ausgegeben, oder ungefähr 8 Schweizer Franken (2
$) pro Person pro Jahr. Das war beträchtlich mehr als bei
jeder anderen jüdischen Gemeinde zur selben Zeit. Währen
das JDC nicht viel mehr tat, als die Situation zu
beobachten, wurde das Verhältnis zwischen Kahn und seinem
Nachfolger, Morris C. Troper, einerseits, und den
Führungspersonen des SIG andererseits, schrittweise immer
enger. So war es speziell nach dem Jahr 1936, als Saly
Mayer Präsident des SIG wurde. Die Wichtigkeit dieser
Verbindung bestätigte sich später von selbst. Bis zur
grossen Flucht in die Schweiz im Jahre 1938 war die Anzahl
Flüchtlinge nicht hoch. Im Jahr 1935 schätzte Kahn 2000
jüdische Flüchtlinge, von denen einige 100 Hilfe
brauchten.
(Endnote 93: R14, Kahn Bericht von Januar 1936 über das
Jahr 1935. Ungefähr durchschnittlich 300 Personen wurden
durch den VSIA umsorgt. Die Ausgaben des Vereinigten
Verteilungskomitees beliefen sich im Jahr 1935 auf 7010 $,
im Jahr 1936 auf 4200 $, im Jahr 1937 auf 4935 $. Einige
Spitäler und kulturelle Einrichtungen wurden unterstützt).