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Yehuda Bauer: Der Hüter meines Bruders

Eine Geschichte des Amerikanischen Jüdischen Vereinigten Verteilungskomitees 1929-1939

[Holocaust-Vorbereitungen in Europa und Widerstand ohne Lösung der Situation]

aus: My Brother's Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929-1939; The Jewish Publication Society of America, Philadelphia 1974

Übersetzung mit Untertiteln von Michael Palomino (2007)

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Kapitel 6. Der Beginn vom Ende
[J. Weitere Ereignisse in Europa 1938-1939]

[6.31. Letzte Verhandlungen über die Koordinationsstiftung für den Schacht-Rublee-Auswanderungsplan 02]

[Die britisch-jüdischen Gelder für die Koordinationsstiftung sind beschränkt - die Juden des Dampfers St. Louis brauchen Unterstützung]

Die Verhandlungen in London machten eine weitere Tatsache klar: Es war unklar, ob überhaupt von den britischen Juden Geld fliessen würden. Der Grund war, dass das britische Judentum in Britannien und anderswo schon sehr grosse Summen ausgeben musste; das amerikanische Judentum war reicher und grösser, und insofern hatte das amerikanische Judentum proportional weniger beigetragen als das britische Judentum. Das Verteilungskomitee JDC dachte zuerst, dass (S.281)

sein im Voraus zu leistender Beitrag an die Koordinationsstiftung 500.000 $ betragen würde; dies war eine vernünftige Summe, wenn man bedenkt, dass das totale Einkommen für das Jahr 1939 8,1 Millionen $ betrug. Aber zwei Wochen später wurde diese halbe Million Dollar den Flüchtlingen der St. Louis zugesprochen, so dass ein Achtel der Gelder des JDC damit nicht mehr zur Verfügung stand. Der Druck von Präsident Roosevelt führte zu weiteren Überlegungen im JDC, die Beiträge zu überdenken.

[Dabei ist es die Industrie des Präsidenten Roosevelt, die die NS-Armee aufrüstet und das Hitler-Regime unterstützt: gegen den Kommunismus. Und der Kommunismus ist auch finanziert: durch "amerikanische" Banken. Der Weltkrieg wird gut organisiert durch ... die "USA". Und die Juden und die Friedfertigen dürfen schauen, wo sie bleiben].

[6. Juni 1939: Das JDC gibt 1 Mio. $ für die Koordinationsstiftung]

Am 6. Juni entschied es [das JDC] sich für einen riskanten Schritt: Es würde die Stiftung mit 1 Mio. $ versorgen, und dies unabhängig von einer britischen Beteiligung - dies war eine komplette Umkehr der JDC-Position vom März. Das Fehlen von realistischem Denken in diesen Verhandlungen kann vielleicht klarer dargestellt werden, wenn man bedenkt, dass die Stiftung, mit der 1 Million $ Kapital, als Gegenstück zur Treuhandstiftung in Deutschland gelten sollte, deren Vermögen 600 Millionen $ ausmachte.

(Endnote 152: Executive Committee, 6/5/39 [5. Juni 1939], 6/16/39 [16. Juni 1939])

An einer Sitzung des Verwaltungskomitees (Administration Committee) gab Rosenberg den Grund bekannt, wieso die zusätzliche Belastung akzeptiert würde: Es sollte keine Unsicherheit bestehen "dass wir bereit sind, eine Verpflichtung zu übernehmen, die eigentlich von Herrn Taylor und dem Präsidenten gewünscht worden ist."

(Endnote 153: AC [Administration Committee Akten], 6/26/39 [26. Juni 1939])

[17. Juni 1939: Einige jüdische Führer sind gegen die Beteiligung an der Koordinationsstiftung]

Nach der Entscheidung vom 6. Juni fand am 17. Juni ein weiteres informelles Treffen jüdischer Führer statt. An dieser Sitzung äusserte Wise seine Skepsis in Hinsicht auf den vom JDC unternommenen Schritt; aber nur Joseph Tennenbaum von der Amerikanischen Gesellschaft der Polnischen Juden (American Federation of Polish Jews) und der Jüdische Weltkongress, ein führender Verfechter der Boykottbewegung und späterer Geschichtsschreiber des Holocaust, stimmten gegen die JDC-Aktion. Die Basis der Begründung war, dass die Koorndinationsstiftung deutsche Exporte finanzieren würde, und den antideutschen Boykott behindern würde.

(Endnote 154: Executive Committee, 7/17/39 [17. Juli 1939]; 9-30, 6/17/39 [17. Juni 1939] Sitzung)

In der Zwischenzeit verhandelten Baerwald und später Linder mit den britischen Juden und Nichtjuden in London, und mit Emerson vom ICR  [Intergovernmental Committee on Refugees (ICR) (1938 in Evian eingerichtet)]. Bald wurde ihnen klar, dass sie in Tat und Wahrheit mit der britischen Regierung verhandelten. Zwischen dem 5. und 7. Juni traf Baerwald Wohlthat, der anscheinend nach London gekommen war, um einer Konferenz über Walfang beizuwohnen.

(Endnote 155: 9-30, 6/7/39 [7. Juni 1939] Memo (von J.C. Hyman)

Wohlthat, der über die Verhandlungen in London informiert wurde, drückte die Willigkeit der deutschen Regierung aus, die Verhandlungen mit sogar einer rein amerikanischen Gründung weiterzuführen, wenn die Verhandlungen zwischen den amerikanischen und britischen Juden scheitern sollten (S.282).

In einem solchen Fall, so sagte Wohlthat, "könnten wahrscheinlich 5 bis 10 % der jüdischen Vermögen in Deutschland an die Treuhandstiftung übergeben werden."

(Endnote 156: ebenda [9-30, 6/7/39 [7. Juni 1939] Memo (von J.C. Hyman)])

Obwohl der dokumentarische Beweis, der diesen Sachverhalt untermauern würde, fehlt, so scheint es doch, dass die Gespräche mit Wohlthat das JDC überzeugt haben, dass dies ein Projekt sei, das mit grösster Energie weiterverfolgt werden sollte. Das JDC war davon vollends überzeugt.

Die grundlegende Differenz zur Meinung der britischen Juden lag in der Tatsache, dass das JDC nicht gewillt war, Geld für Siedlungspläne zu geben, deren Umsetzung ohne Regierungshilfe zu teuer waren. Am 13. Juli traf sich ferner in New York eine Delegation des Amerikanisch-jüdischen Kongresses und des Jüdischen Arbeitskomitees mit den JDC-Führern. Die ersteren beiden verlangten, dass in der Koordinationsstiftungs-Gründungsurkunde klar erklärt würde, dass der deutschen Seite keine ausländische Währung zufliessen würde, und dass aus den Operationen der Stiftung keine zusätzlichen Exporte resultieren würden.

(Endnote 157:
-- 9-30, 7/15/39 [15. Juli 1939] Telegramm von Jaretzki und Hyman an Linder. Siehe auch:
-- Brief von Adolph Held an JDC, 7/12/39 [12. Juli 1939], in 9-30.

Held dachte, dass "bevor wir unsere Zusage an den Rublee-Plan geben, der nur eine modifizierte Version des bekannten Schacht-Plans ist, wir mindestens versuchen sollten, eine Antwort auf die brennendste Frage des Tages zu finden: Wohin werden die Auswanderer, angenommen, sie werden durch den Rublee-Plan unterstützt, gehen?")

[19. Juli 1939: Britannien verkündet seine Beteiligung an Siedlungsprojekten, wenn andere sich auch beteiligen - die publizierte Charta über die Koordinationsstiftung (Schacht-Rublee-Plan) am 20. Juli 1939]

Die britische Regierung machte - wahrscheinlich auf Hinweis von Sir Herbert Emerson - einen Schritt vorwärts. Am 19. Juli erklärte das Aussenministerium in einer Pressemitteilung, dass - im Gegensatz zu der bisherigen Politik - die britische Regierung sich an Siedlungsprojekten beteiligen würde, vorausgesetzt andere Regierung wären bereit, dasselbe zu tun.

(Endnote 158: 9-30, Text der Pressemitteilung von Lord Winterton nach einer Sitzung des ICR, 7/19/39 [19. Juli 1939])

Die Gründungserklärung der Koordinationsstiftung machte klar, dass die neue Organisation ziemlich unabhängig von allem war, was in Deutschland passierte, dass sie die Auswanderung und Siedlungstätigkeit fördern würde, dass sie "für Land sorgen würde" - was immer das auch hiess - und die Ausrüstung der Auswanderer. Es war aber nicht ausdrücklich gesagt, dass sich die Organisation mit Kolonisation beschäftigen würde. Diesbezüglich existierte nur die Anspielung im Hintergrund. Am 19. Juli unterschrieb ein zögerliches JDC die Charta. Der Text wurde am 20. Juli publiziert.

[1. September 1939: Die Koordinationsstiftungs-Charta wird durch den Krieg wertlos]

Sechs Wochen später, am 1. September, wurde die die Charta durch die ersten Schüsse des [europäischen] Zweiten Weltkriegs wertlos.

[Frage: Warum war Roosevelt in der jüdischen Versetzung nach Guayana engagiert?]

Eine der verblüffendsten Fragen, die in den komplizierten Verhandlungen im Frühling und Sommer 1939 aufkamen, ist: Warum sollte der Präsident der USA so darauf bestehen, dass amerikanische Juden so grosse Geldsummen für die jüdische Umsiedlung in ein solch unklares und abgelegenes Projekt ausgeben sollten? Warum sollte er so besorgt darüber sein, dass ein Abkommen zwischen den amerikanischen (S.284)

und britischen Juden abgeschlossen wurde? Die menschliche Einstellung des Präsidenten, während er selbst nicht zweifelte, war immer von politischem Scharfsinn geprägt. Die Koordinationsstiftung musste von Roosevelts Standpunkt aus auch einen politischen Zweck verfolgt haben, wahrscheinlich den, durch die Lösung des Flüchtlingsproblems international an Prestige zu gewinnen - ausserhalb der USA natürlich.

[Frage: Konnte die deutsche Seite nach der Koordinationsstiftung ernst genommen werden?]

Das zweite Problem ist nicht weniger verzwickt, aber relativ einfacher zu beantworten: Wollten die Deutschen wirklich ein solches Schema wie im [Schacht-]Rublee-Plan einführen?

Es scheint ziemlich klar, dass Hitler im Detail über die Verhandlungen mit Rublee informiert war. Schachts Entlassung im Januar scheint mit dem Rublee-Plan nicht im Geringsten etwas zu tun zu haben. Klar gab es da eine Rivalität zwischen Ribbentrop einerseits und Schacht und Göring andererseits. Im Januar erklärte ein Rundbrief von Ribbentrop, dass das jüdische Auswanderungsproblem bei allen praktischen Zwecken unlösbar war, und es wurde eine radikalere Lösung angedeutet.

(Endnote 159: Dokumente zur deutschen Aussenpolitik, Serie D, 5:927)

Aber trotz Ribbentrops Einwänden gingen die Verhandlungen weiter.

(Endnote 160: Hilberg, loc. cit. [The Destruction of European Jews; Chicago 1961])

In seinen bekannten Instruktionen an Frick, den Nazi-Innenminister, bezog Göring ausdrücklich Helmut Wohlthat unter die Mitglieder des geplanten Zentralbüros für jüdische Auswanderung mit ein, den er als den Verantwortlichen für die Verhandlungen über den Rubblee-Plan bestimmte.

Es scheint, dass der Plan zwischen Göring und der SS zu einem Zankapfel wurde. Heydrich, Himmlers Stellvertreter, erklärte am 11. Februar, dass die Umsetzung des Rublee-Plans auf keinen Fall sicher war, so dass die zwangsweise Auswanderung in der Zwischenzeit weiterlaufen sollte. Hitler selbst - der seinen Anhängern widersprach - kann schon in den Begriffen der Judenvernichtung gedacht haben, wie es in der berühmten Rede vor dem Reichstag am 30. Januar 1939 zum Ausdruck kam, und noch klarer in den Gesprächen mit dem tschechischen Aussenminister Chvalkovsky am 21. Januar, wo er mit der Vernichtung des europäischen Judentums drohte. In der Zwischenzeit war die Vernichtung aber nicht praktisch, und jede Methode der Vertreibung, die in einem Resultat endete, war gut.

(Endnote 161: Broszat et alia, op. cit. [Broszat, Martin et alia: Die Anatomie des SS-Staates; Olten und Freiburg 1965], S. 340-45)

Im Ganzen gesehen scheint es, dass die Nazis den Plan ernst nahmen, und dass sie gewillt waren, ihn als eine mögliche Lösung der jüdischen Frage anzusehen. Unterdessen hielt sie dies aber nicht davon ab, so lange (S.284)

wie kein Auswanderungsabkommen existierte, die Verfolgung zu verstärken und die Leute, die kein Geld oder Visum hatten hinauszujagen. Aber es wäre falsch, von diesem Verhalten abzuleiten, dass sie den Rublee nur für ein Stück Papier gehalten hätten.

Ein Autor äussert sein Bedauern über die Tatsache, dass die Koordinationsstiftung so spät eingerichtet wurde, dass wertvolle Zeit verlorenging, und "dass in den Jahren vor Kriegsausbruch so wenig vollbracht worden war."

(Endnote 162: Wyman, op. cit. [Wyman, David S.: Paper Walls; Amherst, Mass., 1968], S. 56)

Die Belege scheinen diese Schlussfolgerung nicht zu belegen. Die freiwilligen, jüdischen Quellen waren schlicht und einfach nicht in der Lage, die nötigen, grossen Geldsummen für erfolgreiche Operationen der Stiftung aufzubringen; Siedlungsgebiete gab es in Tat und Wahrheit keine, und im Siedlungsplätze in den USA, in Australien, in Südamerika oder sogar in Palästina zu finden, hätte Zeit erfordert.

Die Zeit zwischen Januar und September 1939 stand sicherlich nicht zur Verfügung. Wenn die Stiftung im Januar eingerichtet worden wäre, so hätte vor dem [europäischen] Kriegsausbruch nicht mehr getan werden können.

[Ende Sep 1939: Polen: "Fast 2 Millionen polnische Juden in den Händen der Nazis"]

[Polen wurde geteilt, und grosse Teile des polnischen Judentums flüchteten in den russischen Teil, der erst 2 Wochen danach russische besetzt wurde. Somit stehen ca. 1,8 Mio. polnische Juden unter NS-Recht].

Ende September fallen fast 2 Millionen polnische Juden in die Hände der Nazis, und nun dachten Hitler und die SS über andere Lösungen der Judenfrage nach. Die Stiftung wurde zu einem historischen Moment.

[Die antisemitisch-katholische polnische Bevölkerung unterstützte alle Massnahmen gegen die Juden und war gewillt zu helfen, und es fanden sogar Massenerschiessungen statt, ohne dass dafür ein Nazi-Befehl existierte. Gleichzeitig konnten sich aber auch Juden bei Christen versteckt halten etc.].

Das deutsche Judentum - so muss hinzugefügt werden - war über die Verhandlungen sehr verbittert, denn sie waren vom kalten Heydrich-Terror direkt selbst betroffen. Die "Verhandlungen des Evian-Komitees", schrieb der Hilfsverein an Lord Samuel am 10. Februar, "haben definitiv mehr Schaden als Nutzen gebracht."

(Endnote 163: 31-Germany, Flüchtlinge 1939-42, Brief an Lord Samuel, 2/10/39 [10. Februar 1939])

[Mai 1939: Deutsch-jüdische Vertreter in London ohne Resultat]

Im Mai wurde einigen Vertretern des deutschen Judentums erlaubt, nach London zu reisen; es wurde von ihnen erwartet, dass sie mit positiven Antworten hinsichtlich der Siedlungsräume und hinsichtlich der Einrichtung der Koordinationsstiftung zurückkommen würden. Sie kamen mit leeren Händen zurück, und sie waren herzlos von den Chefs der ICR [Intergovernmental Committee on Refugees] abgewiesen worden. Emerson, der Direktor der ICR, verweigerte ihnen sogar eine kleine Bestätigung, dass jede Anstrengung unternommen werde, dem deutschen Judentum zu helfen."

(Endnote 164: Morse, op. cit. [Morse, Arthur D.: While Six Million Died; New York 1968], S. 248-49)







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