[L. 6.33.
Jüdische Auswanderung aus dem Reich (Deutschland und
Österreich) nach Schanghai 1938-1939 - 18.000 bis
September 1939]
[Jüdische Auswanderung
nach Schanghai ohne Visum möglich]
In einer Welt mit geschlossenen Grenzen und feindlicher
Bürokratie,
(Endnote 176:
Ein gutes Beispiel davon war in Lateinamerika der
Staatssekretär von Britisch-Guiana (die vorgeschlagene
jüdische Heimat). Dieser teuer Mann schrieb am 13.
Dezember 1938 an das Informationsbüro von Britisch-Guiana
in New York einen Brief (siehe oben, Endnote 172),
29-Germany), als Antwort auf eine Anfrage für eine
Einreisegenehmigung von einem jüdischen Flüchtling. Dem
Flüchtling wurde gesagt, dass jeder, der 50 Pfund in
seiner Tasche hätte, an Land gehen könnte. Aber da gab es
noch einige kleine Haken: Es gab keine Arbeit, und es gab
keine Arbeitslosigkeit; allgemein gesprochen wurden
Flüchtlingen einfach gesagt, nicht zu kommen. "Es wäre das
unschicklichste für unsere Familie und für Sie, hierher zu
kommen. ... Sie werden eindringlich angewiesen, nicht in
diese Kolonie einzuwandern.")
waren die deutschen und österreichischen Juden bereit,
sich an jedem Strohhalm festzuklammern. Ein solcher
Strohhalm war Schanghai. Im Jahre 1937 war Schanghai
aufgeteilt in einen internationalen Teil, der von
ausländischen Mächten betrieben wurde (der in Tat und
Wahrheit während der Zeit der Separation vom chinesischen
Staat die Stadt regierte), und der chinesische Teil der
Stadt, der gerade von den Japanern erobert worden war. Es
gab dort keine (S.289)
Vorschriften für irgendein Visum, um in die Stadt zu
gelangen. Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Wien
wurde sich dieser Tatsache im Sommer 1938 bewusst. Das
Problem war, die Ausgaben nach Schanghai zu bezahlen,
normalerweise durch ein deutsches oder italienisches
Schiff; später versuchte man auch die Eisenbahnverbindung
über die UdSSR in die Mandschurei und dann nach Schanghai.
Schanghai wurde ein Platz für Flüchtlinge, speziell für
solche Leute, die von Haft und Konzentrationslager bedroht
waren, und die keinen anderen Auswanderungsplatz finden
konnten.
[Juden in Schanghai in
kleinen Gruppen ohne Kontakt untereinander]
Die jüdische Gemeinde in Schanghai bestand aus zwei
Hauptelementen: eine weltliche Aristokratie bestand
hauptsächlich aus irakischen Juden (unter ihnen waren
viele Mitglieder der berühmten Familien Sassoon und
Kaddouri), und russische Juden, die während des Ersten
Weltkriegs von der Mandschurei aus gekommen waren. Seit
der Machtübernahme von Hitler waren auch einige deutsche
Juden angekommen, vor allem Mitglieder von Fachberufen.
Die verschiedenen Gruppen führten sozial und kulturell ein
getrenntes Leben und hatten nur wenig Sympathie
füreinander.
Ende 1937 hatte die Lage der wenigen deutsch-jüdischen
Flüchtlinge die Blicke des JDC auf sich gezogen. Zu dieser
Zeit wandte der Anwalt Harry A. Hollzer von Los Angeles,
ein respektabler Eingesessener des JDC, seine
Aufmerksamkeit auf Schanghai - seinen Bruder, Joseph
Hollzer, der der Kopf des dortigen Jüdischen
Fürsorgekomitees war, der einige speziell verwirrende
Informationen lieferte. Im Frühjahr 1938 waren einige
bettelarme Juden in der Stadt, nicht alle von ihnen waren
deutsche Juden. Aber in London entschieden das Joint
Foreign Committee und das Board of Deputies und die
Anglo-Jewish Association, dass Schanghai "nicht eine
Sache" war, "die alle jüdischen Gemeinden ausserhalb von
Schanghai und Hong Kong in Sorge zu bringen brauchte."
(Endnote 177: R52, laufende Berichte ("current reports"),
10/12/37 [12. Oktober 1937])
[Juden in Schanghai
wollen die neuen jüdischen Flüchtlinge nicht finanzieren
- Hilfe des JDC]
Die Wahrheit in der Sache war, dass die reichen Juden von
Schanghai sich Sorgen machten, und nicht sehr willig
waren, für die wenigen Flüchtlinge zu sorgen, die sich
damals in der Stadt aufhielten. Von London aus schien es
lächerlich, Geld an einen Platz wie Schanghai zu schicken.
Das JDC konnte diese Haltung nicht übernehmen. Nicht nur
Hollzer, sondern auch andere Leute wandten sich an das
JDC. Im Februar 1938 ermächtigte das New Yorker Büro Kahn,
um die Sache zu untersuchen, denn Schanghai war kaum in
Europa bekannt, Kahns hauptsächliches Feld seiner
Aktivitäten.
(Endnote 178: Executive Committee, 2/24/38 [24. Februar
1938])
Die Berichte des JDC weisen darauf hin, dass im Jahre 1938
der Flüchtlingsarbeit in Schanghai 5000 $ zur Verfügung
gestellt wurden. (S.290)
[Sep 1939: 18.000
deutsch-jüdische Flüchtlinge in Schanghai - Hilfe des
JDC]
Nach dem November 1938 begannen die Leute in die
fernöstliche Metropole auszuströmen. Bis Juni 1939 waren
dort 10.000 Flüchtlinge in der Stadt, und bis zum
Kriegsausbruch in Europa waren dort fast 18.000. Die
meisten von ihnen fanden im chinesischen Teil der Stadt
Unterschlupf. Arbeitslosigkeit war eher die Regel als die
Ausnahme, weil Europäer in Sachen Arbeit mit den Chinesen
nicht Schritt halten konnten. Anfang Februar lenkten die
Konsuls von Britannien, Amerika und Frankreich "die
Aufmerksamkeit ihrer Regierungen auf (die)
Flüchtlingssituation, speziell auf (die) Notwendigkeit
(für) Fürsorgefonds."
Die US-Regierung wandte sich natürlich an das JDC. Im JDC
bestand die Meinung, dass "wenn (die) Sache vom
Aussenministerium an uns kommt , dann müssen wir
vorbereitet sein zu helfen."
(Endnote 179: R55, Telegramme 1/12/39 [12. Januar 1939],
2/1/39 [1. Februar 1939]
Der Rat für das Deutsche Judentum in London steuerte auch
Hilfe in der Höhe von 5000 Pfund bei; aber die Hauptlast
fiel an den JDC, der vor dem September 60.000 $ an
Schanghai überwies.
Versuche, den Zustrom nach Schanghai aufzuhalten, wurden
von allen verantwortlichen Körperschaften unternommen, die
mit der Auswanderung zu tun hatten. Aber die jüdischen
Agenturen in Deutschland und Österreich verweigerten die
Zusammenarbeit. Im März 1939 antwortete der Hilfsverein in
Berlin mit einem Plädoyer "uns zu glauben, wenn wir Ihnen
sagen, dass wir nicht fähig sind, die Auswanderung von
Deutschland zu verringern, und dass die einzige
Möglichkeit, unsere Leute daran zu hindern, an Orte wie
Schanghai zu gehen, darin liegt, woanders konstruktivere
Gelegenheiten für die Auswanderung zu finden."
(Endnote 180: R10, 3/19/39 [19. März 1939], Hyman
Memorandum an Backer)
Der Druck der Gestapo war endgültig überzeugender als
alles, was das JDC sagen konnte.
Das Paradoxe an der Situation in Schanghai - im Nachhinein
betrachtet - liegt in der Tatsache, dass das, was 1938 /
1939 als die äusserste Grausamkeit betrachtet wurde,
namentlich, die erzwungene Auswanderung, sich nun als
versteckte gesegnete Tat herausstellte, obwohl die
Verkleidung oft in der Tat sehr schwer zu ertragen war.
Die Flüchtlinge in Schanghai, die illegalen Einwanderer,
die durch ihre Verzweiflung auf die Schiffe nach Palästina
oder nach Lateinamerika geschoben wurden, oft unter
direktem Druck der Gestapo - alle diese Leute konnten den
Holocaust überleben. Jene, die dahinter geblieben sind,
konnten das nicht. Noch im Jahre 1939, als man das klare
Gefühl eines sich nähernden Untergangs hatte, ging im
deutschen Judentum der Gedanke um, dass es für einen Juden
ehrenvoller sei, in Europa den Tod zu erleiden, als bei
einer Hungersnot in (S.291)
Schanghai zu sterben.
(Endnote 181: R47, 3/22 [22. März 1939?], ohne
Unterschrift: "Man kann auch der Meinung sein, dass es für
einen Juden wertvoller wäre, einen Märtyrertod zu
erleiden, als in der Not in Schanghai zugrundezugehen. Die
erste Wahl wäre eine Sache von
kiddush hashem, die zweite Wahl wäre ein
Versagen der jüdischen Auswanderungspolitik." (Übersetzung
aus dem Deutschen).
Die Wahrheit ist, dass die Leute in Schanghai nicht an
Hunger starben - zum grossen Teil dank dem JDC.